Reminiszere

Predigt zu Jesaja 5,1-7 am Sonntag Reminiszere (28. 2. 2021)

Liebe Gemeinde,

Ein Weinberg macht viel Arbeit. Lukas Cranach malte in einem Bild auf dem sogenannten Weinbergaltar Arbeiter in einem Weinberg: Die Reformatoren beackern ihn. Philipp Melanchthon schöpft Wasser, Martin Luther kehrt abgeschnittene Reben auf, vielleicht um sie später zu verbrennen, Johannes Bugenhagen hackt, andere sammeln Steine oder ernten Trauben. Paul Eber kniet vor einem Weinstock und schneidet Triebe ab, die sonst mit ihrem Wachstum den Weinstock schwächen und die Ausbeute an guten Trauben schmälern würden. Jeder konzentriert sich ganz auf seine Aufgabe. Vergebliche Liebesmüh, was sie tun? Es kann immer passieren, dass später Frost kommt und die Weinlese später geringer ausfällt als erhofft. Weinstöcke können von Krankheiten wie dem echten Mehltau oder Schädlingen befallen werden. Ganze Weinberge vernichtete die aus Nordamerika stammende Reblaus. Vergebliche Liebesmüh kennen alle Winzer: Trotz aller harten Arbeit können Wetter, Schädlinge oder Krankheiten ihre Weinberge schwächen und zu Ernteausfällen führen.

Die Reformatoren, die so emsig im Weinberg ackern, haben selbst erlebt, dass nicht all ihr Tun Früchte trug. Martin Luther schrieb 1523 seine Schrift „Dass unser Herr Jesus ein geborener Jüde sei“ und erhoffte sich wohl auch, dass sich Jüdinnen und Juden der noch jungen protestantischen Bewegung anschließen und sich taufen lassen würden. Sein anfänglicher freundlicher Umgang wandelte sich in Zorn, als sein Werben keinen Erfolg hatte. Den entsetzlichen Höhepunkt seiner Wut und seines Hasses markiert seine Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen“ zwanzig Jahre später, und noch drei Tage vor seinem Tod rief er von der Kanzel zur Vertreibung der jüdischen Mitbürger auf. Sein Antisemitismus wirkte nach bis ins nationalsozialistische Regime.

Mit Wut, Enttäuschung und Ablehnung reagiert auch der Weinbergbesitzer in unserem Predigttext. Kleine und große Enttäuschungen, Niederlagen und Ärger kommen auch in unserem Alltag vor, und Menschen reagieren ganz unterschiedlich: Die einen cholerisch, andere melancholisch und wieder andere mit Gleichgültigkeit oder Resignation. Wir erleben diese Reaktionen auch in unserer Gesellschaft, wenn es beispielsweise um Wahlen geht: Manche stimmen aus Wut ab, um Politikern oder Parteien einen Denkzettel zu verpassen, auch wenn es im Zweifelsfall gegen ihre eigenen Interessen geht – einer der Gründe, warum Donald Trump an die Macht kam – andere hoffen, mit ihrer Wahl die Zeit um zehn oder zwanzig Jahre zurückdrehen zu können und wieder andere wählen gar nicht, weil sie das Gefühl haben, dass es keinen Unterschied mache, wem sie ihre Stimme geben.

Der Mensch im Weinberglied des Jesaja ist enttäuscht und außer sich vor Zorn. Er macht seiner Wut in einem Lied Luft, an die Stelle der anfänglich zärtlichen Hege und Pflege tritt blinde Zerstörungswut: Jetzt will er alles dem Erdboden gleich machen! Die schützende Mauer um den Weinberg einreißen, die liebevoll gehegten Weinstöcke ausreißen und den sorgfältig von Steinen befreiten und umgegrabenen Weinberg brach liegen lassen. Sogar der Regen, das einzige, was der Weinbergbesitzer nicht selbst in mühsamer Arbeit verrichten musste, soll diesen Weinberg noch gießen.

Das Überraschende bei Jesaja ist, dass er nicht von uns Menschen und unserer menschlichen Enttäuschung und Wut erzählt. Denn der Weinbergbesitzer aus Jesajas Lied ist Gott. Er klagt voller Zorn und Trauer über die Menschen, die er liebt und die er fürsorglich umhegt hat wie einen Weinstock.

Ist Gott denn nicht der gnädige, liebende und barmherzige Gott, als den ihn uns gerade Martin Luther vertraut gemacht hat? Martin Luther, der am zornigen, strengen und gerechten Gott, wie er uns in Jesajas Lied begegnet, verzweifelte, hat Gott als gnädigen und barmherzigen, gütigen Gott wiederentdeckt. Der Gott, mit dem Martin Luther sich verzweifelt auseinandersetzte, war keiner, der seinen Weinstock liebevoll umhegt und fürsorglich pflegt. Luther erkannte, dass er den strengen Ansprüchen nie genügen konnte: Nie konnte er fehlerlos denken, reden und handeln, völlig selbstlos sein und ohne die kleinste Sünde.

An den liebevollen und fürsorglichen Gott, den Luther in der Bibel entdeckte, im Gleichnis vom Verlorenen Sohn und den Schriften des Paulus, wenden wir uns hilfe- und haltsuchend. Luthers Frau Katharina von Bora fand ein wunderbares Bild dafür: Wir halten uns an Gott fest, klammern uns fest „wie eine Klette am Kleid“. Aber, und das zeigt Jesaja mit seinem Lied, Liebe und Zuwendung, eine Beziehung, sind keine Einbahnstraße. Ich wende mich Gott zu, und er schnkt Halt, Liebe und Verlässlichkeit. Und es kommt auch etwas zu mir zurück mit diesem Geschenk, eine Verpflichtung. Jede Gabe ist zugleich eine Aufgabe. Gott will, dass etwas wächst, dass wir fruchtbar sind, dass wir das Leben in Gemeinschaft fördern, Frieden schaffen und Gerechtigkeit üben. Gott will eine gute, gerechte und friedliche Welt, und er will, dass wir zu dieser Welt beitragen.

Die Beziehung zu Gott, das Halt suchen und finden in dieser Beziehung, muss eingeübt werden. Mit der Abkehr von Ritualen und Bräuchen geht Haltlosigkeit einher. Vom Brauch des Fastens fühlten sich manche eingeengt und fasteten nicht, andere möchten sich nicht vorschreiben lassen, an Karfreitag nicht zu tanzen. Aber wenn der Brauch verlorengeht, das Bewusstsein für das, was hinter dem Ritual steht, verliert der Mensch seinen Halt. Wir brauchen Bräuche und das, was hinter ihnen steht. Durch Rituale und Bräuche üben wir das Leben in Beziehung mit Gott ein.

Wie haben Sie, habt ihr Laufen, Fahrrad fahren, Autofahren, Kochen oder das Spielen eines Instrumentes gelernt? Wir alle haben diese Dinge nicht dadurch erlernt, indem darüber mit uns gesprochen oder uns davon erzählt wurde, sondern vor allem, indem wir es gemacht haben: Ausprobiert und so lange wiederholt haben, bis uns alles in Fleisch und Blut überging, bis wir nicht mehr lange überlegen mussten, wie das jetzt nochmal funktioniert, linke Hand hier, die rechte hier herüber, und was macht man jetzt gleich mit dem linken Fuß?

Wir haben all diese Tätigkeiten so lange wiederholt, dass wir sie mehr oder weniger intuitiv, ohne groß darüber nachdenken zu müssen, ausführen können. Wer sein Lieblingsrezept kocht, kennt es in- und auswendig, kann die unzählige Male ausgeübten Handgriffe verrichten und findet Erfüllung, Zufriedenheit und Entspannung darin. So ist es mit Ritualen und Bräuchen, die Menschen in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Lernen ist anfangs mühsam, es bedeutet üben und wiederholen, aber es kommt der Moment, in dem man hineingenommen wird in die Freude am Tun und eine Art Rausch erlebt. Wer schwimmt, muss die Angst vor dem Untergehen überwinden und lernen, Arme und Beine koordiniert zu bewegen. Dann erlebt man, wie das Wasser trägt und hält. Aber es geht nicht ohne Einsatz und Übung.

Ich stelle mir vor, dass es mit dem Glauben ähnlich ist. Er gibt uns Halt und trägt uns, aber er verlangt auch Einsatz und Arbeit. Jede Beziehung, auch unsere Beziehung zu Gott, braucht Zeit und will gepflegt werden. Paare haben Rituale, besondere Orte oder Zeiten nur für sich, und auch Glaube braucht Rituale, besondere Orte und Zeiten für die Beziehung zu Gott.

Die Fastenzeit dauert 40 Tage. Vielleicht nehmen wir uns vor, jeden Morgen bewusst mit einem Gebet zu beginnen, ein Lied zu singen oder zu hören oder ein Bibelwort zu lesen, das uns durch den Tag begleitet, oder einmal in der Woche eine Kirche zu besuchen, für eine stille Andacht oder einen Gottesdienst, jetzt, da die Kirchen auch außerhalb der Gottesdienste wieder geöffnet sein dürfen. Was wir geben, kommt zu uns zurück. Der Satz „jede Gabe ist auch Aufgabe“ gilt auch umgekehrt: „jede Aufgabe ist auch Gabe“. Wir arbeiten an unserer Beziehung zu Gott wie die Reformatoren im Weinberg auf dem Bild von Lukas Cranach: Wir tun unser Bestes und Mögliches und legen alles Weitere getrost in Gottes Hand. Er wird Frucht entstehen lassen. Wir üben, uns ihm zuzuwenden, weil wir es brauchen.

Amen