Predigt am Sonntag Invokavit, 21. 2., zu Joh 13,21-30
Liebe Gemeinde,
Anne Spoerry führte in Kenia das Leben einer Heiligen. Sie erwarb als 46jährige Flugschein und Flugzeug und widmete ihr Leben fortan der Fürsorge für Arme und Kranke und rettet unter großem persönlichen Einsatz unzählige Leben. Ihr Neffe berichtete, seine Tante sei nur glücklich gewesen, wenn sie arbeitete. Anne Spoerry starb 1999 an einem Schlaganfall und wurde unter großer Anteilnahme in Kenia beerdigt: „Verehrt und geachtet als legendäre fliegende Ärztin“ steht auf ihrem Grabstein.
Dass Anne Spoerry als Studentin in Paris inhaftiert wurde, weil sie sich in der Résistance engagierte hatte, und rund zwei Jahre im KZ Ravensbrück inhaftiert war, war bekannt. Ihr Unwille, darüber zu sprechen, wurde als der eines KZ-Opfers verstanden, über unmenschliche Haftbedingungen, Folter oder Verstümmelung sprechen zu müssen. Aber nach ihrem Tod wurden Akten eines britischen Militärgerichts in Hamburg bekannt. Sie war angeklagt, weil sie andere Häftlinge gequält, gefoltert und getötet hatte, in einem Fall durch Verabreichen einer tödlichen Injektion, offenbar unter dem Einfluss der Häftlingsältesten Carmen Mory. Alle ihr zur Last gelegten Verbrechen beging Spoerry offenbar auf Morys Geheiß und teilweise in Zusammenarbeit mit ihr. Ein «Teufel» sei Mory, der sie «verwünscht» habe, sagte Spoerry einer Mitinsassin zufolge später.
Eine Mitinsassin hatte Spoerrys Taten miterlebt. «Wenn ich sie nach dem Krieg auf der Straße gesehen hätte, hätte ich ihr den Rücken gekehrt und mich geweigert, ihre Existenz zur Kenntnis zu nehmen», sagte sie dem Journalisten John Hemigway, der ein Buch über Anne Spoerry schrieb. «Aber mit dem, was ich nun über ihr Leben in Afrika weiss, würde ich sie umarmen.»
Das Gute, das Anne Spoerry in Afrika tat, kann als Versuch verstanden werden, Buße zu tun für ihre Verbrechen. Einen Teufel, der sie verwünscht oder verführt habe, sah Spoerry in Mory. Ist es ein Versuch, Verantwortung zumindest zum Teil abgeben zu können, oder das Eingeständnis, sich selbst nicht zu verstehen und nicht sagen zu können, wie man in der Lage sein konnte, andere zu quälen und zu töten?
In unserem Predigttext weiß Jesus, dass Judas vom Teufel überwältigt werden wird, vielmehr, laut dem Bericht des Johannes gibt Jesus selbst das Zeichen und setzt die Geschehnisse in Gang: „Und als der den Bissen nahm, fuhr Satan in ihn.“ Was Judas tut, lässt sich nicht allein aus seinen Gedanken und Absichten, seinen Erfahrungen und seinem Leben erklären. Er ist der Täter, und doch ist das Böse größer und stärker als er, eine Einsicht, die auch aus Anne Spoerrys Worten herauszuhören ist: Ich konnte dem Bösen nichts entgegensetzen. Paulus schreibt an die Römer in Kapitel 7: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht tun will, das tue ich.“ Einen Anklang an die Worte des Paulus legt Goethe seinem Mephisto in den Mund, der sich Faust mit diesen Worten vorstellt, allerdings kehrt Goethe die Auswirkungen um und lässt Mephisto seine Machtlosigkeit in gewisser Weise eingestehen: „Ich bin die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“
Wir wollen Gutes tun und scheitern. Wir wollen nicht Böses tun, aber das gelingt uns, ohne dass wir hinterher sagen könnten, welche Macht uns beherrscht hat. Und niemand ist davor gefeit, denn so wie die Jünger bange fragen müssen: „Bin ich’s?“, können auch wir nicht ausschließen, dass wir in einer kritischen oder gefährlichen Situation versagen. Später, unter dem Kreuz, ist keiner der verbliebenen Jünger bei Jesus. Wir alle ahnen, dass in uns Abgründe verborgen sind. Wir wollen sie bei uns und unseren Mitmenschen nicht wahrhaben, darum reagieren Nachbarn und Verwandte in der Regel mit Entsetzen, wenn ein Verbrechen ans Licht kommt: Das hätten wir ihm oder ihr nicht zugetraut! Und uns hätten wir nicht zugetraut, mit so jemandem befreundet zu sein. Welche Signale haben wir übersehen, haben wir bewusst weggeschaut?
Tröstlich erscheint mir an unserem Predigttext neben der großen Gefasstheit, mit der Jesus seinem Leiden nicht nur entgegensieht, sondern es selbst in Gang setzt, eben dies: Neben der Macht des Bösen, die stärker ist als wir Menschen, ist es Jesus, der dem Bösen die Macht geben muss, Judas überwältigen zu können. Offenbar hat der Teufel, hat das Böse auf dieser Welt nur die Macht, die ihm von Jesus eingeräumt wird. Es wirft natürlich Probleme auf. Wir fragen, warum Jesus Judas nicht davor bewahrt, schuldig zu werden und ihn zu verraten. Wenn aber Judas Jesus nicht verriete, würde dann dem Tod nicht ausgewichen, anstatt ihn zu überwinden? Ist es ähnlich wie bei Anne Spoerry: Dass es die böse Tat braucht, damit Gutes daraus entstehen kann?
Wäre Jesus nach dem Passafest in Jerusalem mit seinen Jüngern weiter umhergewandert, hätte Menschen geheilt, Wunder getan? Judas wollte Jesus womöglich drängen, sich ein für alle Mal, über alle Zweifel und Gegner hinweg, als der Messias zu erweisen, die Macht Gottes unhinterfragbar offenbar werden zu lassen – Judas dachte dabei wahrscheinlich an einen Messias, der mit Schwert und Feuer die Römer besiegt, letztendlich hat aber Jesus den Feind der Menschen besiegt und überwunden. Nicht die Römer, von denen die Juden sich unterdrückt fühlten, ist der schlimmste Feind, sondern der Tod. Jesus hat ihn besiegt, nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit Opferbereitschaft, Hingabe und Liebe: Zu denen, denen Jesus die Füße wäscht, und die er, wie Johannes erzählt, „liebte bis ans Ende“, gehört auch Judas. Auch für ihn geht Jesus in den Tod. Judas ist einer von uns, und vielleicht erscheint uns deshalb sein Andenken so unheimlich: Wir können nicht dafür garantieren, dass wir anders denken, fühlen und handeln als er.
Die Macht des Bösen muss zur Verwirklichung von Gottes Heilsplan beitragen. So erzählt es Johannes. Das Böse hat in Gottes Plan eine Funktion. Es muss von Jesus begonnen werden, und es wird von Jesus beendet und besiegt. Es hat nur begrenzte Macht innerhalb der Macht Gottes über die Schöpfung. Dass das Böse Macht über uns gewinnen kann, zeigen unzählige Verbrechen, Untaten, zeigt die Geschichte von Anne Spoerry wie die von Judas, wir können dem Bösen aus eigener Kraft nicht immer widerstehen. „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre“, erinnert uns unser Wochenspruch aus dem ersten Johannesbrief. Die Macht des Bösen ist Gottes Liebe am Ende immer unterlegen. Vertraute und Verräter, am Ende schützt auch die Nähe zu Jesus, die innige Beziehung zu ihm die Jünger nicht davor, ihn zu verraten und zu verlassen. Aber wir wissen, dass die Nähe zu Jesus den Jüngern half, aus dieser Erfahrung heraus Zeugnis zu geben, zu bezeugen, wie Gottes Liebe und Vergebung Leben schaffen und schenken kann. Hätte es Anne Spoerrys Leben als Lebensretterin und Heilerin in Afrika ohne die Erfahrung in Ravensbrück und den grauenerregenden Einblick in die Abgründe des eigenen Ichs geben können? Hätte sie soviel Mut, Risikobereitschaft, soviel Anteilnahme aufbringen können ohne ihre Erfahrung, dass sie in der Lage war, andere zu töten? Wir wissen es nicht, und ihre guten Taten machen Verbrechen und Mord nicht ungeschehen. Aber vielleicht können wir doch an dieser Lebensgeschichte entdecken: Das Böse hat nicht unbegrenzt Macht. Die Werke des Teufels können zerstört werden, wenn auch nicht von uns, aber Jesus hat es getan. Es ist wie ein zarter, hoffnungsvoller Duft, wie der Frühling, der in der Luft liegt: Noch ist es kalt, noch ist der Winter nicht ganz vorbei, aber er kann sich nicht auf Dauer behaupten und muss weichen. So ist es mit dem Teufel: Noch kann er uns beherrschen, aber seine Herrschaft ist begrenzt.
Amen