Karfreitag

Predigt zu Jes 52, 13-53,12 an Karfreitag, 2. April 2021

Liebe Gemeinde,

Das klingt doch schon mal gut, sagen wir manchmal erleichtert. Das hört sich aber nicht gut an, sagen wir besorgt, wenn jemand hustet oder uns von Krankheiten oder Sorgen erzählt. Wir hören an jemandes Stimme, ob er oder sie fröhlich oder bekümmert ist, ob jemand leidet oder ob es ihm gut geht. Wer unbeschwert ist, summt oder pfeift munter vor sich hin, wer leidet, singt allenfalls Klagelieder. Lieder bewegen und berühren uns tiefer als gesprochene Worte.

587 vor Christus wurde der Tempel zerstört und große Teile der Bevölkerung ins Exil deportiert. Das Volk litt, es fühlte sich von Gott verlassen. Die Klagelieder des Propheten Jeremia und Klagepsalmen wie Psalm 137 lassen uns das Leid und die Erschütterung der Verschleppten ahnen: „An den Wassern zu Babylon saßen wir und weinten“, beginnt der Psalm. Und in Vers 3 hören wir Bitterkeit: Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: „Singet uns ein Lied von Zion!“

Kommt das Singen vor dem Sprechen? Wenn ich meine Nichten und Neffen beobachte, wenn sie selbstvergessen beim Spielen oder Malen vor sich hin summen, glaube ich, dass die Musik eine Ausdrucksform ist, die nicht erlernt werden muss. Auch Eltern sprechen anfangs weniger mit ihren neugeborenen Kindern, als dass sie instinktiv gurren und säuseln, summen und singen, um die Kleinen zu trösten oder zu beruhigen.

Alte und neue Lieder. Lieder, die im Kummer trösten wie „Heile, heile Segen“, und die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Lieder, die von Liebe, Mitleid und Leid erzählen und uns auf einer anderen Ebene anrühren als es Sprache allein könnte. Alte, vertraute Lieder wie „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“, neuere wie „Du für mich“ oder „Verraten, verspottet“. In ihnen wird Staunen über Gottes Tun, über Jesu Weg ans Kreuz, über die grenzenlose Liebe und Hingabe hörbar, dasselbe Staunen wie in jenem Lied über den leidenden Gottesknecht, das vierte Lied, das der Prophet Jesaja singt.

Auch in Jesajas Lied wird Staunen deutlich: Wie waren wir sicher, dass der Knecht Gottes ein Ausgestoßener sein müsse, und wie groß war unser Irrtum! Wer hätte geglaubt, was uns da berichtet wurde? fragt die Gemeinde fassungslos im Lied des Jesaja. Dann erkennen die Menschen: Wir waren wie Schafe, die sich verirrt haben, wir sind vom Weg abgekommen. Die Menschen versuchen, ohne Hirten, ohne Gott, zurechtzukommen, sie setzen sich an Gottes Stelle. Ist das Leid der Verbannung und das Gefühl der Gottverlassenheit die Strafe?

Der Prophet tröstet mit seinem Lied das jüdische Volk: Wir sind auf unseren Irrwegen nicht allein, wir sind begleitet. Gott ist im Leiden bei uns. Was Gott tut, übersteigt unser Verstehen, wir können uns wohl nur annähern und zu erfassen versuchen, tastend, auf der Ebene der Gefühle, weniger auf der Ebene unseres Verstandes.

Das Staunen über Gott, der sich dem Leidenden zuwendet und ihn zu neuem Leben erweckt, klingt aus den Worten des Liedes: Nachdem er so viel gelitten hat, wird er wieder das Licht sehen. Gott selbst meldet sich am Ende des Liedes selbst zu Wort und bekräftigt, dass er sein Werk vollenden wird, an dem er Freude hat, wie Jesaja singt. Der unschuldige Gerechte wich dem Leid nicht aus, er nahm es auf sich und hat Heil und Leben für viele erworben. Hiob litt darunter, dass aus Leiden und Not auf eine Schuld geschlossen wurde, die auch beim Frömmsten der Frommen vorliege, eine herzlose Theorie, die auch Hiobs Freunde vertreten, deren Kommentare im Grunde auf „selbst Schuld“ hinauslaufen. Ob bewusst oder unbewusst begangen, eine Missetat, die Hiob begangen hat und mit der er das Unheil, das über ihn hereingebrochen ist, selbst verschuldet hat, kann nicht ausgeschlossen werden.

Das Lied des Jesaja, mit seinen stammelnden, teils unübersetzbaren Worten erzählt von Erlösung und Befreiung, denn es befreit vom Zusammenhang zwischen Leid und Schuld. Leiden ist nicht Strafe für begangene Sünden. Das Leiden ist in der Welt, und Gott leidet mit.

Im Leiden des Gottesknechts nimmt Gott selbst an Leiden und Schuld Anteil, um beides zu heilen. Wir Menschen empfinden Mitleid und können damit trösten und heilen. Wer erinnert sich nicht an heilsame Zuwendung, tröstliche Berührungen, die Schmerzen oder Kummer zu lindern helfen und zeigen, dass jemand Anteil an uns nimmt? Wer krank war, hat aus der Zuwendung eines Menschen, der bei ihm wacht und fieberheiße Tücher wechselt, Tee, Suppe und Medikamente einflößt, Kraft geschöpft. Wenn wir begleitet werden in Krankheit und Trauer, die Hand eines Menschen uns hält, wenn wir Halt und Trost suchen, spüren wir die Kraft des Mitleids. Andere leiden mit uns, sie nehmen Anteil und tragen an unserer Last mit, sei es Krankheit oder Trauer. Wir sind nicht allein und müssen das, was uns quält, nicht allein ertragen.

Gott wird in Jesus Mensch und nimmt das Leiden der Welt auf sich. Jesus greift die Worte des Jesaja auf, wenn er seinen Freunden erklärt, was ihm widerfahren muss und warum. Sie begreifen nicht ganz, was er meint, wenn er sie darauf hinweist, dass menschliches Leben nicht vom Leiden verschont bleibt, dass Leidenserfahrung auch Lebenserfahrung bedeutet. Leiden trifft uns, ohne dass wir es verhindern könnten, Mitleid wird uns geschenkt, und es bewegt uns, dass uns andere helfen wollen. Dankbarkeit für erfahrene Hilfe bereichert unser Leben, stärkt und ermutigt uns und kann Leid erträglicher machen. Mitleid berührt und verhindert, dass wir erstarren und innerlich absterben.

Der Kern unseres Glaubens ist: Wenn wir leiden, ist unser Gott bei uns. Er hat sich am Kreuz selbst der Verachtung und dem Tod ausgeliefert. Der Mensch ist Gottes Ebenbild: Wenn wir uns vor dem Leiden anderer abwenden, wenden wir uns von Gott ab. Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr mir getan, sagt Jesus. Jeder und jede kann jederzeit von Not und Leid getroffen werden, es gehört zu unserem Dasein als Menschen. Die Kraft des Mitleids bewegt uns, lässt uns menschlich fühlen, denken und handeln, lässt uns Jesu Vorbild folgen.

Liebe und Mitleid sind wie eine Vorwegnahme des Siegs über den Tod und heilen und bereichern unser Leben. Sie stärken den, der sie schenkt und den, der damit beschenkt wird. Dass Leid und der Tod überwunden werden, dass am Ende reiches, bereichertes Leben siegt, können wir schwer in Worte fassen, kaum verstehen. Am ehesten kommen wir dem Wunder wohl auf die Spur, wenn wir uns führen lassen von Tönen: Von traurigen Klageliedern zum Mitleid, von alten und neuen Glaubensliedern zum Staunen, weil Gott uns in der Not nicht allein lässt, und zur Dankbarkeit, weil der Tod überwunden ist.

Amen