Predigt zu Hebr 11,1-2 und 12, 1-3 an Palmsonntag (8. 3. 2021)
Liebe Gemeinde,
In der Schule liebte ich den Hundertmeterlauf. Auf die Kurzstrecke konnte ich problemlos meine Höchstleistung abrufen. Aber dafür war der 800-Meter-Lauf eine Schinderei, weil ich Runde um Runde um das Stadion eiern musste, während mir die Laufpartnerin aufmunternd vom Rand der Laufbahn aus nach jeder Runde zurief, wie viele Umrundungen schon geschafft seien und wie wenige noch fehlten, während meine Lunge rasselte und die Beine mit jedem Schritt schwerer wurden. Ausdauersport statt Sprint.
Ich glaube, mit dem Glauben verhält es sich ähnlich. Er setzt ein gewisses Stehvermögen voraus, Ausdauer und die Motivation, über eine längere Zeit durchzuhalten. Er ist kein Sprint, bei dem man kurz nach dem Start schon die Ziellinie überqueren kann.
Ausdauer hilft auch, das wunderschöne, berührende, aber auch sehr lange 11. Kapitel zu lesen, das in unserem Predigttext aufgrund seiner Länge ausgelassen wurde. Der Schreiber des Hebräerbriefs schlägt sozusagen ein Fotoalbum auf und beginnt zu blättern und zu erzählen, von Menschen, die lange vor uns waren, und von ihren Erfahrungen.
Der Briefschreiber erzählt von lauter biblischen Personen, Glaubenszeuginnen und -zeugen. Er beginnt bei Abel, erzählt von Noah, Abraham, Sara, Isaak, Jakob, seinem Sohn Josef und den Eltern des Mose, von Rahab aus Jericho. Der Verfasser unterbricht sich selbst: Was könnte ich euch noch erzählen: Von Gideon, Barak, Simson, Jephtah, David, Samuel, den Propheten, die durch ihren Glauben Königen die Stirn boten, für Gerechtigkeit eintraten, Verheißungen im Geist ihrer Landsleute lebendig und wach hielten…
Und wir erkennen: Glauben können wir nicht definieren, wir können nur von ihm erzählen, indem wir von Menschen erzählen, die Erfahrungen im Glauben gemacht haben. Glaube hilft Menschen, wahrzunehmen, was sie zuvor nicht sehen konnten. Hagar zum Beispiel, die Mutter von Abrahams Erstgeborenen Ismael, die mit ihrem Kind verstoßen wird und mit ihm in der Wüste umherirrt.
Schließlich legt sie ihren Sohn nieder, erschöpft und entkräftet, weil sie kein Wasser hat. Sie selbst geht ein Stück abseits, weil sie das Sterben ihres Kindes nicht mitansehen kann. Und sie klagt Gott ihr Leid. Dass er ihr ein Kind geschenkt hat, nur um es ihr auf diese grausame Weise wieder zu nehmen. Die Bibel erzählt, dass ein Engel Hagar erscheint und ihr zeigt, wo sie Wasser findet. Das Wasser war da, aber Hagar konnte es vorher nicht sehen. Der Engel, dessen Wort sie vertraut, zeigt ihr, was sie vorher nicht sehen konnte.
Glaube hilft uns, zu sehen, was da ist, aber auch auf das zu hoffen, was nicht oder noch nicht sichtbar ist. Der Briefschreiber erzählt die eine Geschichte, die Basis des jüdischen Glaubens, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten, erinnert und nachvollzogen am Passahfest. Gott befreit sein Volk und führt es in die Freiheit: Bei Tag als Wolkensäule, bei Nacht als Feuersäule. Er zeigt den Israeliten den Weg ins Land der Verheißung. So, meint der Verfasser des Briefes, ist es mit den Zeuginnen und Zeugen des Glaubens: Auch sie weisen euch den Weg, ihr könnt ihnen folgen, und sie führen euch. Wie die Wolkensäule leitet euch die Wolke der Glaubenszeuginnen und -zeugen. Wenn ihr von den Vorgängerinnen und Vorgängern hört, ihre Geschichten erfahrt, erfahrt ihr Gottes Gegenwart.
Wir wissen, dass auch Israel viel Durchhaltevermögen und Ausdauer abgefordert wurde. Wir sind auch noch nicht am Ziel, erinnert der Hebräerbrief die Gemeinde, noch liegt ein weiter Weg vor uns. Umso wichtiger ist es, dass ihr jetzt nicht aufgebt. Die Gemeinde ist müde und matt geworden, ähnlich wie ich mich zwischen der gefühlt hundertsten und hundertersten Runde beim 800-Meter-Lauf fühlte, wenn ich überlegte, was mich jetzt eigentlich davon abhalten sollte, mich gemütlich abseits der Tartanbahn ins Gras zu legen und ja, es wäre schon schöner, den Lauf ordentlich zu beenden, aber so richtig Lust darauf habe ich gerade nicht.
Einige Gemeindeglieder, lesen wir im Hebräerbrief, kommen nicht mehr in die Gottesdienste. Der Briefschreiber klingt nicht vorwurfsvoll, sondern bestürzt, denn die Gottesdienste sollen die Gemeindeglieder doch ermutigen und stärken, trösten und ihre Hoffnung auf eine bessere Welt lebendig und wach halten.
Aber es scheint so, als möchte nicht mehr die ganze Gemeinde unterwegs sein, sondern einige fühlen sich angekommen, möchten sich zur Ruhe setzen. Etwas, das auch Mose immer wieder zu spüren bekam: Hier könnte man auch leben, glauben die Israeliten auf dem Weg, warum der weite Weg bis Kanaan? Hier gibt es Wasser, warum sollten wir aufbrechen und weiterziehen ins Ungewisse? Und Mose und Aaron müssen motivieren, überzeugen, Mut machen zum Durchhalten.
Die Gemeinde des Schreibers des Hebräerbriefs unterscheidet sich wenig von unserer heutigen Situation. Manche, die sich eingerichtet haben in der Welt, geben zu, dass es nicht die beste aller Welten sei, aber immerhin die bestmögliche. Denn ist wirklich eine Welt ohne Armut, Krieg, Hass und Gewalt möglich? Ist es zu erwarten, dass die Menschen menschlich denken und handeln, und zwar nicht nur einige, sondern alle? Oder ist eine solche Welt einfach nicht möglich? Der Glaube sagt: Sie ist möglich und wirklich. Wo Menschen glauben, hoffen sie auf diese bessere Welt, die Hoffnung zeigt ihnen, was nicht da ist oder noch nicht da ist.
Aber die Gemeinde, an die sich der Hebräerbrief wendet und der der Briefschreiber Mut zum Durchhalten machen will, ist eine Gemeinde, die zudem angefeindet wird, verspottet und verhöhnt wird. Das hat sicher zur Ermüdung beigetragen und die Frage „Was soll’s?“ aufgeworfen. Manche möchten sich wehren, zurückschlagen, aber der Verfasser verweist auf Jesus, den er als den Vollender des Weges betrachtet, den die Glaubenszeuginnen und -zeugen nicht vollenden konnten. Jesus ist Alpha und Omega, im griechischen Alphabet Anfang und Ende. Ohne ihn, ohne den Grund unseres Vertrauens auf Gott, wären die Erzählungen von Abraham und Sara, Josef, Jakob und all den anderen für uns nur Geschichten, ohne Jesu Auferstehung wüssten wir nicht, dass unser Glaube ein Ziel hat.
Einige Menschen tun sich schwer mit der Karwoche, mit der Erinnerung an Leiden und Passion Jesu. Es ist wichtig sich zu erinnern, dass Jesus uns vorausgegangen ist. Weil er auferstanden ist, werden auch wir zu neuem Leben auferstehen.
Es ist wichtig, dass wir uns an unseren Glauben erinnern, erinnern lassen und daran, dass die Hoffnung, die Jesus in den Menschen geweckt hat, die ihm beim Einzug in Jerusalem zujubelten, durch die nachfolgenden Ereignisse, durch den Karfreitag, nicht widerlegt wird, genauso wenig wie durch all die erschütternden Neuigkeiten, die wir tagtäglich lesen oder hören.
Glaube ist Grundlage der Hoffnung und eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Hagar nimmt das Wasser in ihrer Unruhe und Angst um ihr Kind zunächst nicht wahr, obwohl es da ist. Wenn wir manchmal nicht sehen können, was vor Augen steht, wie könnten wir dann ausschließen, dass das, was wir nicht sehen können, worauf wir hoffen, wahr und wirklich ist? Die Hoffnung auf eine bessere Welt, der feste Glaube, dass eine andere Wirklichkeit möglich ist, hat Menschen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 ermutigt und bewegt. Sie haben Spuren hinterlassen, die Welt verändert, Hans und Sophie Scholl, Edith Stein oder Dietrich Bonhoeffer. Martin Luther King und andere wandten sich gegen die Benachteiligung der Afroamerikaner, und Barack Obama hielt eine bewegende Predigt gegen Gewalt und Hass nach einem Anschlag auf eine afroamerikanische Gemeinde. Sie alle glaubten und glauben, dass eine bessere Welt möglich ist als die, in der wir leben.
Glaube beginnt immer persönlich, aber er bleibt nicht privat. Er wirkt in der und auf die Welt. Wir sind unterwegs mit allen, die vor uns auf dem Weg waren und denen, die nach uns kommen und die sich vielleicht an unsere Spuren halten und ihnen folgen. Wir alle haben eine Geschichte, Erfahrungen mit dem Glauben, mit Jesus, dessen Weg wir folgen. Er ist der Anfang unseres Glaubens und sein Ziel.
Amen