Kantate

Liebe Gemeinde, Kantate, singt! heißt der heutige Sonntag, und es ist schade, dass wir in diesem Gottesdienst nicht miteinander singen können. Zu den Vorsichtsmaßnahmen gehört auch, dass Sie bitte die Platzkarten ausfüllen. Sie werden, falls keine Infektion auftritt, unangesehen vernichtet. Das erste Lied der Bibel erzählt von Rettung und Befreiung durch Gott: Miriam singt es am rettenden Ufer. Lasst uns dem Herrn singen, er hat eine herrliche Tat getan. Unser Wochenspruch aus Psalm 98 fordert uns auf: Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Das Lied der Miriam und die Psalmen sind gesungene Gebete. So beten auch wir – durch Abstand und weitere Einschränkungen räumlich getrennt, aber im Gebet vereint:

Gott, Geber aller guten Gaben, wir danken dir für die Musik.
Sie tröstet, bewegt, ermutigt, und nimmt uns mit in eine andere Welt.
Auch brüchige Töne klingen mit andern im Lied des Lebens.
Wir wollen dir Lob singen, mit unseren Gebeten und in unseren Herzen.
Wir bitten dich: Lass das Lied deiner Güte unser Leben begleiten und uns im Alltag bewegen und stärken.

Zwei, die gefangen sind und doch frei. Als Predigttext für den heutigen Sonntag Kantate habe ich Apg 16, 23-34 ausgewählt: Gebet hinter Gittern. Hören wir, was Lukas erzählt:

23 Nachdem man ihnen viele Schläge verabreicht hatte, ließen sie die beiden ins Gefängnis werfen. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie besonders gut zu bewachen. 24 Befehlsgemäß brachte er sie in die hinterste Zelle und schloss ihre Füße in den Holzblock. 25 Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Gott Loblieder. Die anderen Gefangenen hörten ihnen zu. 26 Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, das die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab. 27 Der Gefängniswärter wurde aus dem Schlaf gerissen. Als er sah, dass die Gefängnistüren offen standen, zog er sein Schwert und wollte sich töten. Denn er dachte: Die Gefangenen sind entflohen. 28 Aber Paulus schrie laut: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.« 29 Der Wärter rief nach Licht. Er stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder. 30 Dann führte er sie hinaus und fragte: »Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?« 31 Sie antworteten: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir alle in deinem Haus.« 32 Und sie verkündeten ihm und allen anderen in seinem Haus das Wort des Herrn. 33 Noch in derselben Nachtstunde nahm der Wärter Paulus und Silas zu sich. Er wusch ihnen die Wunden aus. Dann ließ er sich umgehend taufen und mit ihm alle, die in seinem Haus lebten. 34 Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und lud sie zum Essen ein. Die ganze Hausgemeinschaft freute sich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatte.

Apg 16, 23-34

Vor vielen Jahren auf dem Konfirmandenwochenende antwortete einer der Jugendlichen auf die Frage eines Mitarbeitenden, warum sie denn nicht kräftig mitsängen bei den Liedern am Lagerfeuer ganz freundlich: „Wir singen in uns drin!“ Heute und bis auf weiteres sind wir alle gehalten, in uns drin zu singen, uns von der Musik berühren zu lassen, ohne mitzusingen. Wir feiern in engen Grenzen Gottesdienst. Trotzdem können wir uns befreien lassen.

So, wie wir es in der Apostelgeschichte von Paulus und Silas gehört haben: Sie sind in Philippi angekommen, der ersten europäischen Stadt, in die Paulus das Evangelium bringt. Dort lebt ein Besitzer mit einer Sklavin, die weissagen kann. Ein einträgliches Geschäft für den Besitzer und für die Sklavin Schutz vor unangenehmeren Diensten. Dann passiert der größte anzunehmende Unfall aus Sicht des Besitzers: Die Sklavin begegnet auf dem Marktplatz Paulus und Silas, hört sie predigen und von der Freiheit der Kinder Gottes erzählen. Sie folgt den beiden, und Paulus befreit sie von ihrer Fähigkeit zur Weissagung. Nicht nur die Kundschaft der Hellseherin ist empört, sondern vor allem ihr Besitzer. Es ist der Vorwurf dessen, was wir Sachbeschädigung nennen würden, der Paulus und Silas vor Gericht und ins Gefängnis bringt. Sicherheitshalber ketten die Wärter die Gefangenen nicht nur an, sondern legen sie in den Block.

Ich stelle mir vor, dass aus den Zellen im untersten Stock des Gefängnisses in Philippi ein vielstimmiges Klagelied an die Ohren der Mitgefangenen und der Wärter drang: Klagen, Jammern, Weinen, Schreien, Fluchen und Sich-Empören. Dann kommt die Nacht. Das Schreien der Gefangenen hat alles übertönt; jetzt wird es leiser. In den Zellen hört man den Atem der Schlafenden. Auch dem Kerkermeister sind längst die Augenlider schwer geworden, als etwas Ungewohntes und doch Selbstverständliches geschieht: Um Mitternacht ertönen aus dem Hochsicherheitstrakt leise Gebete und Gesänge.

Vielleicht haben Silas und Paulus aus ihrer jüdischen Tradition das Maariv, das Nachtgebet, gesprochen und gesungen: Psalmen und biblische Lesungen, die jeder fromme Jude kennt. Geistliches Handwerk. Jeder Gläubige weiß, dass es bis Mitternacht gebetet sein muss. Beten kann man auch in Ketten – oder, in unserem Fall, mit Mundschutz und zwei Metern Abstand:

Unsere Grenzen, Gott, vor dir: Wandle du sie in Weite.
Unsere Ohnmacht, Gott, vor dir: Wandle du sie in Stärke.
Unsere Angst, Gott, vor dir: Wandle du sie in Wärme.
Unsere Verlorenheit, Gott, vor dir: Wandle du sie in Heimat.

Ein Handwerk ist eine durch Gewohnheit erlangte Geschicklichkeit. Singen kann man lernen und üben, erzähle ich seit Jahren immer wieder Schülern und Konfirmandenjahrgängen, die von sich behaupten: Ich kann nicht singen! Beten kann man lernen und üben. Glaube hat eine handwerkliche Seite. Was die Gefangenen und auch den Gefängnisaufseher in Philippi in dieser Nacht aufweckt, ist die Abendliturgie. Paulus und Silas üben ihr geistliches Handwerk mitten in Unfreiheit und Not aus.

„Loben zieht nach oben“, beschreibt der Theologe und Musiker Jochen Arnold in vier Worten, was beim Singen und Beten geschieht. Im Gebet und im Gesang bringen wir unsere Gedanken, Gefühle, Hoffnungen und Ängste, unsere Freude, unseren Dank, unseren Kummer und unsere Sorge vor Gott. Wir öffnen ihm unsere Seele. Das hebräische Wort nefesch, das Martin Luther mit Seele übersetzt, heißt wörtlich Kehle. Mancher Psalm wird mit diesem Hintergrund noch verständlicher: Das Sehnen des Menschen nach Gott wird mit dem Schrei nach Wasser verglichen – wer schon tiefen, scheinbar unstillbaren Durst erlebt hat, die trockene Kehle, kann diesen Psalm noch auf einer viel körperlicheren Ebene verstehen und dieses Sehnen nachfühlen.

Loben zieht nach oben. Darum beten und singen Paulus und Silas. In dieser Vorbereitung auf die Nacht erscheint ein Stück Friede zwischen Nacht und Morgen. Ein Handwerk braucht ein paar Regeln: Regelmäßigkeit, Wiederholung, Treue zur Sache. Musiker und Sänger wissen das, und wir Christen haben es von den jüdischen Glaubenden übernommen. Unsere Vorfahren haben es uns vorgemacht: Morgens wurde ein Gebet gesprochen, die Mahlzeit wurde gesegnet mit einem Gebet, der Abend mit dem Segen abgeschlossen… Worte und Gesten, die man nicht als Muss betrachten, sondern ihrer Schönheit willen ausführen sollte. Denn sie haben – wie jede poetische Geste, wie ein Kuss, eine Umarmung, ein Brief, ein Gedicht oder ein Lied – die Fähigkeit, über sich hinauszuweisen.

Der leise Gesang und das Gebet in Lob und Fürbitte, ein Hinausgreifen in den Himmel – trotz gefesselter Hände – löst in dieser Nacht ein Erdbeben aus. Jede Hinwendung zu Gott ist ein Schritt zur Überwindung von Angst und eine Bekräftigung des Vertrauens, ein Blick über den eigenen Horizont hinaus. Es ist Ermutigung: ‚Muot’ in seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet den Sinn, den Geist, das Innere Wesen eines Menschen. Menschen fassen sich ein Herz: Jedes so gesungene Lied und so vor Gott gebrachte Gebet lässt Hoffnung und Veränderung Wirklichkeit werden.

Erdbeben sind in der Bibel immer Naturereignis und Erschütterung der Seele. Matthäus erzählt, wie am Karfreitag die Erde bebt und sich Gräber öffnen. In der Apostelgeschichte springen die Kerkertüren auf – und Menschen werden frei. Aber vor allem ein Menschenleben wird von Grund auf verändert: Die Hauptperson dieser Geschichte ist der Kerkermeister, der treu und brav sein mehr oder weniger gutes Handwerk ausübt. Er wird ganz als Mensch gezeigt, der weiß, was für ihn auf dem Spiel steht, wenn die Gefangenen Lieder und Gebete haben, die sie frei machen. Er weiß, dass er damit selbst zwischen Macht Gottes und der Macht der weltlichen Ordnung steht. Er ist verzweifelt und ruft nach Licht.

Als die Fackeln brennen, sieht er, dass die Gefangenen alle noch sind, wo sie waren. Aber er sieht zugleich, dass sich irgendwie die Vorzeichen verändert haben. Paulus und Silas – und wohl auch die anderen – sind zwar noch, wo sie waren; aber nicht mehr als Gefangene, sondern als freie Menschen. Das hat sich verändert durch das nächtliche Gebet: Sie sind frei.

Das eigentliche Erdbeben geschieht am Kerkermeister, der spürt: Das ist Gottes Stunde. Er versucht zu verstehen und fragt wie ein Kind: „Was soll ich tun?“ Paulus sagt: Glaube! Glaube hat hier etwas Handwerkliches: Der Kerkermeister pflegt Verletzungen, hilft und holt die beiden Gefangenen an seinen Tisch. Der Kerkermeister wird selbst befreit, indem er Worte und Sätze, Gebete und Lieder lernt, die sein Leben neu ausrichten.

Darin liegt die tiefe Wahrheit dieser schönen und ermutigenden Geschichte aus den Anfängen des frühen Christentums. Manche Menschen sagen, die Kirche sei Zuflucht für in dieser Welt abgelehnte Begriffe und ausgestoßene Wörter: Gerechtigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Trost, Schutz verfolgter Menschen – diese Worte, Gesten und Zeichen werden hier bewahrt und eingeübt. Auch in Liedern und Gebeten: Handwerklich eben.