Rogate

Rogate, betet, heißt der 5. Sonntag nach Ostern. Im Mittelalter wurde an diesem und den folgenden Tagen für eine gute Ernte gebetet. Auch am Sonntag Rogate hören wir die Botschaft des Ostersonntags. Beten heißt so verstanden: Wir wenden uns an den Herrn über Leben und Tod, sprechen zu ihm, halten Fürbitte. Jesus selbst bringt seinen Freunden ein Gebet bei, mit dem sie sich Gott zuwenden können, voller Vertrauen, gehört zu werden, wie es unser Wochenspruch Psalm 66,20 ausdrückt: Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet.

Das Vaterunser – so vertraut, dass es manchmal beinahe scheint, als ob es ganz automatisch über unsere Lippen käme. Manchmal tut es gut, Altvertrautes in anderen Worten neu zu entdecken. Ich lese aus Matthäus 6 die Verse 9 bis 13 aus der Basisbibel:

9 So sollt ihr beten: ›Unser Vater im Himmel, dein Name soll geheiligt werden. 10 Dein Reich soll kommen. Dein Wille soll geschehen. Wie er im Himmel geschieht, so soll er auch auf der Erde Wirklichkeit werden. 11 Gib uns das Brot, das wir für heute brauchen! 12 Und vergib uns unsere Schuld – so wie wir denen vergeben haben, die uns gegenüber schuldig geworden sind. 13 Und stelle uns nicht auf die Probe, sondern rette uns vor dem Bösen.‹

Matthäus 6, 9-13

Liebe Gemeinde!

Nach der großen Pause stürzen sie ans Waschbecken, drehen das Wasser voll auf und erzeugen unter exzessivem Einsatz von Seife Schaumgebirge, in denen ein Kreuzfahrtschiff verschwinden könnte. Fielen diese Vorbereitungen zur vollsten Zufriedenheit aus, schmetterten die Erstklässler zweimal: „Happy Birthday“. Händewaschen in Corona-Zeiten. Unter „Geistliches zur Corona-Pandemie“ findet man auf der Homepage der Landeskirche Prälatin Arnolds Predigt für Okuli, in der sie vorschlug: „Beim Händewaschen ein Vater Unser beten.“ Das sind die empfohlenen 30 Sekunden.

Erinnern Sie sich, wie Sie das Vaterunser gelernt haben? Haben Eltern oder Großeltern immer wieder die Worte vorgesprochen, bis sie verinnerlicht waren? Mich berührt es immer wieder, welchen Halt die Worte schenken, wenn viel im Nebel nachlassender Erinnerung verschwindet, Namen vergessen, Gesichter nicht mehr erkannt werden. Aber diese Worte sind noch greifbar: Vater unser, beginne ich, und der andere fällt ein: im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Vertrauter, gemeinsamer Grund, Lebensgrundlage.

Weil es so vertraut ist, besteht die Gefahr, das Vaterunser ohne innere Beteiligung zu sprechen. Martin Luther fürchtete das „Plappern“, wie er schrieb. Auch beim Einsatz des Vaterunsers als Zeitmesser sollten wir bedenken, was im Vordergrund steht: Gebet oder Zeiterfassung. Man kann eigentlich nicht über das Vaterunser predigen, nur seine Gedanken teilen und Anknüpfungspunkte für eigene Erfahrungen bieten. Luther versuchte das in einem Lied.

Mit der Position in der Mitte der Bergpredigt zeigt Matthäus die Bedeutung: Es leitet uns dabei an, uns Gott anzuvertrauen. Vater unser im Himmel: So vertrauensvoll dürfen wir Gott ansprechen, dürfen Anspruch auf seine Zuwendung erheben. Gott sorgt wie Vater und Mutter für uns. Auch, wenn unsere irdischen Eltern uns verlassen haben. Vater und Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf: So hält sich David in Psalm 27 an Gott.

Geheiligt werde dein Name. Mit seinem Namen bindet Gott sich an uns. Gottes Name im Hebräischen kann heißen „ich werde sein, der ich sein werde“. Ich bin verlässlich, sagt sein Name, ich bin mit Abraham gegangen, habe Jakob begleitet, Mose und Israel in die Freiheit geführt. Ich bin der, der Jesus aus dem Tod ins Leben rief. An diesen Gott wende ich mich. Das Gebet des Juden Jesus und seiner jüdischen Anhänger erinnert uns auch: quiddush hashem, den Namen heiligen, bedeutete für Juden das Martyrium. Viele erlebten und erlitten, was es heißen kann, Gottes Namen zu heiligen. Auch Christinnen und Christen erlebten und erlitten es, auch heute noch: Jeder zehnte Christ weltweit wird verfolgt und bedroht.

Dein Reich komme: Heute und hier ist Gottes Reich schon unter uns, aber noch nicht vollendet. Ich vertraue auf Gottes Liebe zu seiner Welt, die der Schöpfungsbericht bekräftigt: Gott sah, dass es gut war. Und ich sehne mich danach, dass Gott die Welt verwandelt, dass Schmerz, Tod und Gewalt überwunden werden. Der Prophet Johannes verspricht: Gott wird alle Tränen abwischen. Der Tod wird nicht mehr sein, Gott wird bei uns wohnen. Darum bete ich: Dein Reich komme!

Die liebevolle Ansprache Gottes als Vater, erinnern die nächsten Worte, bedeuten nicht, dass alles kommt, wie wir Menschen uns vorstellen. Gottes Wille ist die Liebe. Sich seinem Willen anzuvertrauen, kann herausfordernd, schmerzhaft sein, gerade in Zeiten der Not, des Leids, wenn Gott fern scheint. Wir verstehen seine Wege nicht. Wir legen unsere Zukunft in seine Hand: Dein Wille geschehe. Im Garten Gethsemane vertraut sich Jesus Gott an: Dein Wille geschehe, nicht meiner.

Unser täglich Brot, sagt Luther, meint alles, was wir für unser leibliches Wohl brauchen. Der Versuch, dies durch Bevorratung abzusichern, wird schon in der Bibel vereitelt: Die Israeliten sollen vom Himmelsbrot Manna nur sammeln, was sie für den Tag brauchen, alles darüber hinaus verdirbt. Wer dieser Tage im Übermaß Hefe bevorratet hat, machte ähnliche Erfahrungen. Gerade die gegenwärtige Krise hat uns drastisch vor Augen geführt, dass uns Fünf-Jahrespläne nicht völlig absichern können und wir manchmal nur getrost von Tag zu Tag leben können. Darin entdeckten manche eine eigene Freiheit. Es genügt weniger, als man vorher dachte.

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Viel wurde geschimpft, weil Virologen sich korrigiert haben. Zum einen entspricht das dem Wesen der Wissenschaft, zum anderen halte ich Menschen für gefährlich, die nicht zugeben können, dass sie einen Fehler gemacht haben. Die Unfähigkeit, Fehleinschätzungen zuzugeben, kann sogar lebensgefährlich werden, zeigt das Beispiel der USA – der Präsident hat immer recht… Wo um Verzeihung gebeten und Vergebung gewährt wird, öffnet sich der Weg in die Freiheit. Ich bin freigesprochen. Ich muss mein Empfinden aber schärfen: Wie entlarvend ist die Formulierung „ich bin mir keiner Schuld bewusst“. Ich erkenne Fehler und bitte Gott, dass er mich löst und befreit, mir von Versäumnissen unbelastete Zukunft ermöglicht.

Lass uns nicht in Versuchung kommen, sondern entreiß uns dem Bösen: Paulus klagt, der Geist sei willig, doch das Fleisch schwach. Er beschreibt, was auch mir immer wieder bewusst wird: Von manchen Dingen ahne ich zumindest, dass sie mir oder anderen schaden – eigentlich musste nicht erst die erhöhte Infektionsrate unter den osteuropäischen Leiharbeitern in Fleischfabriken zeigen, dass man Menschen nicht an sechs Tagen in der Woche 10 oder 11 Stunden täglich arbeiten lassen kann, ohne dass sie entkräftet sind und leichter krank werden. Dennoch scheinen wir uns nicht aus eigener Kraft von solchem Verhalten freimachen zu können. Vollkommen befreien von dem, was uns immer wieder aufs Neue zerstörerisch festhält, kann nur Gott: Er entreißt uns dem, was uns bedroht. Er errettet uns auch vom Tod.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Dieser später hinzugefügte Zusatz entspricht jüdischer Gebetstradition. Wenn wir uns vorstellen, wir würden diese Worte weglassen, würde die Verbindung zum abschließenden „Amen“ fehlen, das „so ist es, so wird es sein“ bedeutet. Seit Anbeginn der Zeit zeigt Gott sich als treu und zugewandt: Er, der die Welt erschaffen hat, begleitet mich und schenkt am Ende dieses Lebens neues Leben.

Amen