Predigt zu 2 Petr 1, 16-19
Liebe Gemeinde!
Vor einiger Zeit waren wir in wirklich äußerst gemächlichem Spaziertempo mit meinem Patensohn auf den Feldwegen unterwegs, der regelmäßig längere Pausen einlegte und auf seinem Trettraktor dem Anschein nach in tiefste Meditation versank. Auf Nachfragen (es war wirklich kalt an dem Tag) erklärte er, er warte an einer roten Ampel. Die wir Erwachsenen nicht sehen konnten, weswegen wir unbekümmert mehrere Rotlichtverstöße begingen.
Beim ersten Lesen unseres Predigttextes fiel mir diese Episode wieder ein. Ich bin gleich zu Beginn bei den Worten „ausgeklügelte, erfundene Geschichten“ hängengeblieben. Eine Geschichte zu erfinden, ist erst einmal nichts Falsches, sondern Ausdruck von Phantasie. Erfundene Geschichten können zum Beispiel Kinder Abenteuer erleben lassen und ihnen Mut machen. Wer freut sich nicht über Geschichten von Pippi Langstrumpf, die sich die Welt macht, wie es ihr gefällt; wer würde sich nicht manchmal gern so unbekümmert über Regeln und Konventionen hinwegsetzen wie sie? Dabei wissen wir ja, dass es keine körperlich unglaublich starken Mädchen mit Pferd auf der Veranda und einer Kiste mit Goldmünzen im Haus gibt, aber die Geschichte macht Kindern Mut, die Welt zu hinterfragen.
Problematisch sind nicht erfundene Geschichten, die unsere Welt bunter machen, uns träumen oder Abenteuer erleben lassen, für die wir nicht vom Sofa aufstehen müssen, sondern die „ausgeklügelten“ Geschichten. „Ausgeklügelt“ bedeutet für mich, dass die Hörerschaft hinters Licht geführt und getäuscht wird. Dieser Satz steht im Gegensatz zum letzten Vers unseres Predigttextes, in dem der Verfasser des Petrusbriefs ankündigt, dass Gottes Wort Licht für uns ist, verlässlich und Halt bietend, bis „der Morgenstern in eurem Herzen aufgeht“ und alles Dunkel vom Licht erfüllt wird.
In unserer Zeit, in der Verschwörungstheorien auf vielfältige Art in den nicht immer so sozialen Netzwerken kursieren und denen, die ihnen Glauben schenken, die erschreckende Energie geben, sogar das Kapitol in Washington anzugreifen, wie Anfang Januar geschehen, tröstet und ermutigt mich die Verheißung des zweiten Petrusbriefs. Obwohl man sicher sagen könnte, dass es nichts Gutes über uns Menschen im Allgemeinen aussagt, dass der zweite Petrusbrief nach über 1900 Jahren nicht nur lesenswert, sondern auch hochaktuell geblieben ist…
Verschwörungstheorien und Lügen sind nichts, das erst in unserer Zeit aufgekommen wäre – leider. Schon der Verfasser unseres Predigttextes und seine Zeitgenossen kannten ausgeklügelte, frei erfundene Schauergeschichten, die bereitwillig geglaubt wurden. Vermutlich wurde der zweite Petrusbrief zu Anfang des zweiten Jahrhunderts geschrieben, und zu dieser Zeit hatte die christliche Gemeinde schon Erfahrung mit Hohn, Spott, Verachtung, Verleumdung und Verfolgung gesammelt.
Manche Schauermärchen, die über die Christen erzählt wurden (und später über Juden) ähneln erschreckend den Geschichten, die heute verbreitet werden. Über Christen wurde erzählt, sie forderten ahnungslose Neulinge auf, Kinder zu töten, an deren Blut sich die Gemeinde labe: Wir ahnen, dass im Hintergrund Halbwissen und falsch Verstandenes über das Abendmahl stehen könnte. Später wurde Juden vorgeworfen, sie würden Ritualmorde an christlichen Kindern begehen. Heute wird behauptet, es gäbe einen geheimen Zirkel in Amerika, in dem die Reichen, Schönen und Mächtigen Kinder einsperrten und folterten, um aus deren Blut ein Verjüngungsmittel zu gewinnen. Lügen behaupten sich hartnäckig über Jahrhunderte und führen in finstere Abgründe.
„Wir haben mit eigenen Augen seine Macht und Größe gesehen“, lesen und hören wir in unserem Predigttext. Der Verfasser, der in Petrus‘ Namen schreibt, erinnert die Gemeinde daran, dass Petrus und zwei andere Jünger mit Jesus auf einen Berg gestiegen sind. Ob Jesus den dreien erklärt hat, welches Ziel er mit der Besteigung des Berges verbindet? Jedenfalls wird beim Gehen, das immer anstrengender wird, je höher man kommt, der Kopf befreit, man wird offen für das reine Wahrnehmen, empfänglich für die Umgebung. Ich stelle mir vor, dass sich Petrus nach einiger Zeit nicht mehr gefragt hat, was Jesus wohl auf dem Berg vorhat, sondern einfach hört, sieht, riecht und fühlt, was um ihn herum geschieht: Die Wärme der Sonne, Vogelschreie, vorüberziehende Wolken und weit unten der Lagerplatz, wo die anderen warten, und der kleiner wird. Weitsicht und Überblick schenkt so ein Berg, und frische, belebende Luft umweht Menschen auf einem Gipfel.
Mit eigenen Augen sieht Petrus auf dem Berg Gottes Herrlichkeit über Jesus aufscheinen, die sich die Bibel als großen Lichtglanz vorstellt. Er erkennt die Propheten Elia und Mose und hört Gottes Stimme. Wie bei Jesu Taufe im Jordan bestätigt Gott: „Das ist mein Sohn, ihn habe ich lieb. An ihm habe ich Freude.“ Das alles geschieht auf einem Berggipfel, im hellen Tageslicht und vor aller Welt Augen. Aus der Welt der Finsternis, Verschwörungen und Lügen treten wir ins Licht: Am Ende der Nachweihnachtszeit letzten Sonntag und vor dem Beginn der Passionszeit werden wir noch einmal an das Licht erinnert, das in die Welt gekommen ist. Eine manchmal dunkle, düstere Welt. Jochen Klepper, der selbst in dunklen Zeiten lebte, dichtete: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern.“
Hirten und Weise sahen den Stern in der Nacht von Jesu Geburt und haben sich nicht beirren lassen. Sie sind diesem Licht gefolgt, die Weisen über die Paläste und Stätten der Mächtigen hinaus bis ins kleine Bethlehem. Gott offenbart sich vor aller Welt, in aller Sichtbarkeit, mit einem freundlichen, klaren Lichtschein. Niemand muss sich zu ihm durcharbeiten durch verborgene Kanäle, auf Wegen, die nur Eingeweihte kennen, muss die Nacht zum Tag machen und in verborgene Abgründe eintauchen.
Gott bringt selbst sein Licht in diese Welt, lässt sein Licht sehen, seine Stimme hören. Es ist eine Botschaft von Liebe, Licht, Wohlgefallen und Freude: „Das ist mein Sohn, ihn habe ich lieb. An ihm habe ich Freude.“
„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern“, beschrieb es Jochen Klepper. Das Licht ist da, ist nahe, ist schon in unserer Welt und in unseren Herzen. Wir können uns an diesem Licht ausrichten und uns darauf verlassen, dass es uns den Weg weist. Als der zweite Petrusbrief geschrieben wurde, mussten sich Christinnen und Christen verstecken, und das machte man ihnen dann zum Vorwurf: Wenn sie sich verstecken, müssen sie doch etwas zu verbergen haben, oder etwa nicht? Auch Jochen Klepper und seine Familie mussten sich im Verborgenen halten, auch sie kannten die Furcht um ihr Leben. Sicher hätten sie – wie wir wohl auch – bestätigt, in Krisenzeiten zu leben.
Orientiert haben sie sich am Licht. Gottes Wort ist Licht, das an einem dunklen Ort brennt, lesen wir im zweiten Petrusbrief. Ein Licht an einem dunklen Ort drängt das Dunkel zurück, hilft uns, unsere Umgebung wahrzunehmen, zu sehen, was wirklich da ist, und von dem zu unterschieden, was nur in unserer Vorstellung existiert. Bis der Tag anbricht – bis einmal alles Dunkel und alle Lügen überwunden sind. Das Licht, das wir im Herzen tragen, holt und hält uns in Gottes Nähe.
Der zweite Petrusbrief endet in Kapitel 3, 18 mit einem Segenswunsch und der Bekräftigung, dass die Welt keinen finsteren Machenschaften ausgeliefert ist: „Wachst immer weiter in der Gnade und Erkenntnis, die unser Herr und Retter Jesus Christus schenkt. Er regiert in Herrlichkeit, jetzt und bis zu dem Tag, an dem die Ewigkeit anbricht.“
Amen