Altjahrsabend

Liebe Gemeinde,

Im wahrsten Sinn des Wortes hat der Pharao das versklavte Volk Israel in die Wüste geschickt. Die Trauer um seinen erstgeborenen Sohn hat ihn dazu bewegt. Aber er besinnt sich bald anders und jagt den gerade Fortgeschickten hinterher. Um sie zurückzuholen oder um sie aus Rachsucht zu ermorden? Er versinkt jedenfalls mit seinen Plänen und seinen Soldaten im Meer, während die Israeliten wohlbehalten das andere Ufer erreichen. Unser Text markiert diese Schwelle: Zwischen dem Leben in der Sklaverei und dem langen und entbehrungsreichen Weg durch die Wüste, ein Weg durch Leere und Ödnis.

Wer in diesem Jahr herausgerissen wurde aus einem normalen und für viele oft hektischen Alltag, hat zwar keine Wolken- und Feuersäule gesehen, aber war Gott doch oft so nahe wie selten im Leben. Mancher spürte Erschrecken vor der Größe der Welt und empfand die eigene Verlorenheit darin. Es war ein schmerzhafter Abschied vom Vertrauten und Gewohnten. Das Vertraute muss nicht immer gut sein, mancher warnte schon lange vor der Logik des Schneller-Höher-Weiter, aber der Schrecken, den man kennt, ist weniger bedrohlich als das Unbekannte, das die Zukunft bringt. So blieben viele Gewissheiten, an die man sich klammerte, bis Corona alles auf den Kopf stellte.

Die Wüste ist ein Ort, an dem es nur eine Gewissheit gibt: Jeden Tag entscheidet sich neu, ob man überlebt oder umkommt. Den Israeliten erging es ähnlich wie uns. Man hatte sich eingerichtet in einem Alltag, an dem manches gut und anderes nur schwer erträglich war, aber die Israeliten wussten, was sie erwartete. So, wie wir es wussten: Schule, Arbeit, Urlaub, Weihnachten mit sorgfältigem Organisieren, wer wann besucht wird oder eingeladen ist, bevor man sich im Januar einige Tage Skiurlaub gönnt.

Jetzt ist alles Neuland, unvertraut, bei keinem Schritt ist klar, wohin der Weg führt, und keiner kann sagen, was morgen ist: Wird sich die mutierte Form des Virus als ansteckender erweisen als die bisher bekannte? Werden die Impfstoffe auch gegen diese Variante wirken? Für Israel ging es um Wasser und Nahrung, und rückblickend murrt mancher: Ja, die Sklaverei war hart, aber es gab ja wenigstens zu essen!

Für Israel ist es eine Rückkehr in ein Land, das nicht das Geburtsland ist, aber das Land der Sehnsucht und der Verheißung, nur: Keiner war bisher dort und weiß, was die Israeliten erwartet. Gott hat Israel ein Land versprochen, in dem Milch und Honig fließen. Und er selbst begleitet sein Volk auf dem mühsamen und schmerzhaften Weg in das versprochene Land. Schon mehrmals im Lauf der Geschichte kehrten jüdische Männer und Frauen heim aus den Ländern ihrer Geburt in ihr wahres Heimatland. Die Zionisten, die Menschen, die die Konzentrationslager überlebt hatten – ihnen war Israel Zuflucht und Heimat, die Sicherheit und ein Ende des Verfolgtwerdens versprach.

Gott ist da: Am Tag als Wolke, als Feuersäule in der Nacht. Sichtbar, aber nicht fassbar, zu sehen und zu riechen, in der Luft, nicht in der Mitte der Menschen, aber vor ihnen, hebräisch: p‘nim, vor dem Gesicht, als Gegenüber. War es ein Vulkan, der Tag und Nacht sichtbar war und den Weg zeigte? Wies Mose sein Volk immer wieder auf ihn hin: Schaut doch, da vorne, dorthin sind wir unterwegs, und Gott ist ja bei uns!

Ich bin gewiss, schreibt Paulus an die Römer, dass uns nicht von Gottes Liebe trennen kann. Gott ist in unserer Mitte, im Kind in der Krippe. In Jesus lebt er uns vor, was Hingabe, Liebe und Fürsorge bedeuten. Er verbindet uns miteinander, und mit denen, die vor uns gelebt haben und denen, die nach uns gelebt haben. Und er heilt, was zerbricht in unserem Leben.

In Japan werden zerbrochene Keramikgefäße mit flüssigem Gold oder Silber wieder zusammengefügt, sodass gerade die Bruchstellen dem Gefäß oder der Schale eine besondere Schönheit schenken. Der Bruch bleibt sichtbar, er wird nicht zugedeckt, aber verwandelt in etwas Neues und ja, auf eigene und eigenwillige Weise Schönes. So ähnlich stelle ich mir vor, was sich Jochen Klepper von Gott erbittet: Nimm dieses Jahres Last und wandle sie in Segen!

Wir wandern durch die Zeit, von einem Jahr zum nächsten, und man sieht uns das Verstreichen der Zeit an. Risse treten auf, Wunden, die heilen müssen. Aber uns begleitet Gottes Segen, der uns Schutz und Zuflucht bietet wie ein Zelt. Leicht genug, um es abzubauen und mitzunehmen, stark genug, um vor Regen, Wind und Hitze zu schützen. Wie die Hand eines Freundes, die wir ergreifen können, wenn wir uns verlaufen haben. Ein chinesischer Christ schrieb: „Ich bat den Engel, der an der Pforte des neuen Jahres stand: Gib mir ein Licht, damit ich sicheren Fußes der Ungewissheit entgegengehen kann. Aber er antwortete: Geh nur hin in die Dunkelheit und lege deine Hand in die Hand Gottes. Das ist besser als ein Licht und sicherer als ein bekannter Weg.“

Amen