4. Advent

Predigt am Vierten Advent (20. Dezember 2020)

Liebe Gemeinde,

Den Film „Die Wüste lebt“ habe ich als Kind gesehen und ich erinnere mich bis heute gut an daran: Fasziniert betrachtete ich die Bilder aus den amerikanischen Wüsten, die extreme Hitze und Trockenheit tags und die extreme Kälte nachts. Ich bestaunte die Tiere und Pflanzen, die ausgefeilte Überlebensstrategien anwenden müssen, um in diesem Umfeld überleben zu können. Ich staunte über den seltenen Regen, wie er nach langer Dürre die Wüste regelrecht aufblühen lässt. Wüsten erscheinen uns als lebensfeindliche Orte, an denen Leben weit eher endet, als dass neues Leben entstünde. Wüst und leer, wie die Erde zu Beginn der Schöpfung.

Wüst und leer erscheint möglicherweise auch Sara und Abraham ihr Leben, denn sie haben keine Nachkommen. Niemand wird sie respektvoll als Eltern ihres Sohnes ansprechen, als Mutter des… und Vater des… bezeichnen. Deshalb erscheint es mir überaus passend, dass sie in der Wüste sind, im Hain Mamre zwar, aber in lebensfeindlichen Umständen, in der Mittagshitze, wenn die Sonne im Zenit steht, auf die Erde hinabbrennt und alles mit ihrer Kraft ausdörrt.

Da stehen Fremde vor Abraham, drei Unbekannte, die er sofort aufnimmt und versorgt. Es ist keine Geste der Höflichkeit, eine Einladung, die auch unterbleiben könnte, wenn es gerade nicht passt, sondern die Gäste müssen aufgenommen und versorgt werden, andernfalls könnten sie in der Wüste ums Leben kommen und es wäre die Schuld dessen, der die Gastfreundschaft nicht geübt hat. Wir würden es vielleicht als unterlassene Hilfeleistung bezeichnen. In der Wüste können Hunger, Durst und fehlender Sonnenschutz oder Schutz vor der nächtlichen Kälte schnell tödlich enden.

Wir müssen in diesem Winter genau überlegen, wen wir einladen, wie wir unsere Gäste unterbringen und versorgen, damit wir sie nicht mit einer möglicherweise schwer oder tödlich verlaufenden Krankheit in Kontakt bringen. Grundsätzlich ist es dasselbe: Wer nicht das Richtige tut, bringt Mitmenschen in Gefahr.

Lebensfeindlich sind die Umstände in der Wüste, und Gastfreundschaft, Gemeinschaft auf Zeit, sind überlebensnotwendig. Wer heute Gäste bewirtet, kann morgen auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Gäste wissen das und sind höflich. Diese Gäste eher nicht: Sarah ist, wie es sich gehört, den Blicken fremder Männer hinter einem Zeltvorhang entzogen. Sie hört und sieht aber alles, und so hört sie auch die zudringlich scheinende Frage: „Wo ist Sarah, deine Frau?“ Eine Frage, die normalerweise kein Gast dem Gastgeber stellen würde, aber hier richtet die Frage wie ein Scheinwerferschwenk im Theater unsere Aufmerksamkeit auf Sarah, weg von den Männern. Sarah ist unsichtbar, aber plötzlich im Mittelpunkt des Geschehens. Und sie ist im Zentrum von Gottes Aufmerksamkeit.

Die Männer wiederholen das Versprechen, das Abraham und Sarah seit ihrem Aufbruch aus Ur begleitet. Ein Versprechen, das sich seither nicht erfüllt hat, das vielleicht in der Erinnerung der beiden verblasst ist, fast wieder vergessen. „Sarah, deine Frau, wird einen Sohn haben“, bekräftigen die drei Männer Gottes Versprechen an Abraham. Da lacht Sarah.

Wie, darüber erzählt die Bibel uns leider nichts. Nur unsere Vorstellungskraft oder unser Einfühlungsvermögen kann beim Lesen oder Hören die Lücken füllen und wir überlegen, wie und warum Sarah lacht. Ob es das verbitterte Lachen einer alt gewordenen Frau ist, die nichts mehr von Gott erwartet, nachdem sie ihrem Mann keinen Sohn schenken konnte. Oder das eher erheiterte, weise Lachen einer Frau, die gelernt hat, dass nicht alle menschlichen Pläne und Erwartungen so in Erfüllung gehen, wie wir es möchten, und dass man dennoch ein lebenswertes Leben führen kann. Oder das amüsierte Lachen einer Frau, die die Unkenntnis der drei Fremden über die Zusammenhänge der Fruchtbarkeit belustigt? Dass sie nicht mehr im gebärfähigen Alter ist, worauf man angesichts Abrahams Alter schließen kann? Dass sie sozusagen selbst wie die sie umgebende Wüste ist, ohne die Fähigkeit, Leben zu schenken, in sich heranwachsen zu lassen?

Hier kommt Gottes Versprechen zum Tragen: Neues Leben, wo eigentlich keines entstehen kann. Sarahs Lachen scheint Gott zu erheitern, stelle ich mir vor. Denn als ihr Sohn zur Welt kommt, soll er Jizchak heißen, „er lacht“. Gott lacht oder freut sich und bringt Sarah zum Lachen und schenkt ihr Grund zur Freude. Mit Isaak kommt Freude in das Leben der Eltern. Vater und Mutter nicht nur des Isaaks ist jetzt die ehrenvolle Anrede der beiden, sondern Vater und Mutter der Glaubenden. So wird später Paulus im Römerbrief schreiben. Aus Abrahams Gott wird der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, der Gott Israels und unser Gott, der in Jesus Mensch wird. Gott schreibt seine Geschichte weiter mit Abrahams und Sarahs Nachkommen, Nachfolgern im Glauben. Abrahams Grab in Mamre liegt heute in Hebron, und Muslime wie Juden verehren das Grab ihres Stammvaters.

Für uns Christinnen und Christen setzt sich die Geschichte des verheißenen Sohnes in Jesus fort. Mit dem vierten Advent ist die Erfüllung der Verheißung ganz nahe gerückt: Gott kommt. Und entlockt uns vielleicht – wie Sarah – an manchen Stellen ein müdes, ungläubiges oder resigniertes Lächeln. Die Zeltwände, die Abraham und Sarah in unserem Predigttext voneinander trennen, sind in unserer Zeit der Abstand. Wir telefonieren mit Menschen, die wir nicht sehen, während wir sprechen, oder wir winken aus der Ferne, von der anderen Straßenseite, im Vorbeifahren, am offenen Fenster. Gott sucht und sieht, wer fehlt: „Wo ist Sarah, deine Frau?“

Wir sind Gastgeberinnen und Gastgeber, gerade jetzt in der Weihnachtszeit sind wir es gewohnt, eigene Ansprüche, Bedürfnisse und Wünsche hintanzustellen und dafür zu sorgen, dass sich unsere Gäste, Eltern, Kinder oder Freunde, wohlfühlen können und haben, was sie brauchen. Wir haben gelernt, unsere unerfüllten Sehnsüchte zu verbergen oder damit zu leben, dass sie unerfüllt geblieben sind… Endlich mal ein friedliches Weihnachten, ohne Streit oder Verbitterung. Endlich mal ein Weihnachten ohne Hektik und Hast. In diesem Jahr ist manches anders als sonst, und doch bleibt vieles gleich. Rollenmuster verändern sich nicht, und Sehnsüchte sind auch in diesem Jahr da. Wer von einem Fest im Familienkreis träumt, kann diese Sehnsucht nicht einfach aufgeben, weil er oder sie weiß, dass in diesem Jahr die Vernunft gegen eine Feier im großen Kreis spricht.

Wir Menschen gehen auf Abstand zueinander, aber Gott wird Mensch. Gott überwindet alle Abstände, auch die, die wir selbst untereinander einnehmen. Manche ungewollt, andere freiwillig. Vielen gelingt es, sich von der Not anderer zu distanzieren, Bilder aus Flüchtlingslagern von sich fernzuhalten. „Da schalte ich sofort den Fernseher aus“, sagte vor einer Weile jemand zu mir. „Das ist alles so wüst. Da schaue ich nicht hin, das will ich nicht an mich heranlassen.“

Gott macht es genau umgekehrt. Weil er uns so nahe wie möglich kommen will, lässt er alles ganz nahe an sich heran. All unsere Einsamkeit, unsere Angst, unseren Hass – allem setzt er sich aus.

Abraham und Sarah sind in der Wüste. Einem Ort, der nicht zum Leben, sondern allenfalls zum Überleben gemacht zu sein scheint. Dennoch bringt Gott neues Leben, lässt es wachsen und entstehen, mitten in der Wüste. Vielleicht tröstet uns die Geschichte von Abraham und Sarah in diesen Tagen, in denen Gemeinden und Kirchen noch schneller noch kleiner werden, in denen Arbeitsplätze, Wohlstand und auch die Kirchenmitglieder zurückgehen. Gott kommt dorthin, wo kein Leben, kein Werden und Wachsen mehr möglich zu sein scheint. Gott kommt in die Wüste und schenkt Leben.

Wie reagieren wir auf diese Botschaft? Ungläubig, erleichtert, resigniert oder insgeheim belustigt, weil wir im Moment ja eine ganz andere, ganz gegensätzliche Wirklichkeit erleben? Sarahs Geschichte stellt uns die Frage: Was, wenn es doch anders kommt…? Wenn Gott kommt und seine Gegenwart lebensspendend wirkt wie Regen in der Wüste. Freut euch im Herrn allewege! Freuet euch: Der Herr ist nahe!

Amen