Wo die Liebe ist und Güte, da ist Gott

Predigt zu Ruth 1, 1-19 am 3. Sonntag nach Epiphanias

Liebe Gemeinde,

Zwischen dem 4. und 8. Lebensmonat reagieren Kinder mit Abneigung, Misstrauen oder Angst auf neue Gesichter oder Gesichter der Menschen, die sie schon gesehen haben, aber nicht oft. Das Fremdeln ist eine Leistung des kindlichen Gehirns, das lernt, zwischen Bekanntem und Unbekanntem zu unterscheiden. Für Kinder, die in diesem Alter durch Robben oder Krabbeln ihren Aktionsradius erweitern, ist Fremdeln ein guter und überlebenswichtiger Schutz und findet sich in allen Kulturen.

Später lernen wir, dass Fremdes interessant sein kann, dann lockt uns das Ferne, Fremde: Menschen träumen von Südseestränden und türkisfarbenem Wasser. Reisen bildet und hilft, Vorurteile und Grenzen im eigenen Denken zu überwinden und Klischees zu hinterfragen.

Mit fremden Menschen fremdeln die meisten Gesellschaften bis heute. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Ruths Geschichte, in der vom mutigen Überschreiten von Grenzen erzählt wird, von Frauen handelt: Über Generationen hinweg waren sie es, die den Schritt ins Unvertraute gehen mussten, in eine neue Familie einheirateten und einen anderen Namen annahmen.

Relativ spät betritt ein Mann die Bühne, Boas, der den von Naomi und Ruth begonnen Plan aufnimmt und die Zukunft der Frauen sichert, indem er Ruth heiratet. Vor dem Bund zwischen Mann und Frau, der auch darin anklingt, dass Ruths Worte „Wo du hingehst, will auch ich hingehen, dein Gott ist mein Gott“ gern als Trauspruch gewählt werden, steht die Verbundenheit zweier Frauen und – was mir im Blick auf die kommende Woche besonders bedeutsam erscheint – die Verbundenheit der Nichtjüdin Ruth zur Jüdin Naomi.

Am 27. Januar jährt sich zum 76. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Gleichzeitig ist antisemitisches und rechtsradikales Gedankengut in unserer Gesellschaft so deutlich sichtbar wie lange nicht mehr, werden in schamloser Weise die Grenzen von Anstands und Menschlichkeit überschritten: Auch in Stuttgart wurden bei sogenannten Querdenker-Demonstrationen antisemitisch geprägte Symbole gezeigt wie ein Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ oder der Aufschrift „Ich bin Impfjude“. Die Opfer des NS-Regimes werden verhöhnt und die Verbrechen an ihnen verharmlost. Manche Menschen waren ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der Zeit zwischen 1933 und 1945 treue, verlässliche Gefährtinnen und Gefährten. An sie erinnert bis heute die Allee der Gerechten unter den Völkern in Yad Vashem. Die damalige israelische Außerministerin Golda Meir bezeichnete die Gerechten bei der Einweihung 1962 als „Tropfen der Liebe in einem Ozean voll Gift“.

Die Worte der Treue, die Ruth spricht, gelten ihrer Schwiegermutter Naomi und bezeugen eine tiefe, unbedingte Verbundenheit über Grenzen zwischen Volksgruppen hinweg. Naomi muss eine sehr liebenswerte Persönlichkeit sein, wie auch ihr Name nahelegt. Beide Schwiegertöchter möchten sie begleiten. Obwohl Naomi beiden mehrfach nahelegt, in ihrer Heimat neu anzufangen, wieder zu heiraten oder – interessanterweise – ins Mutter-, nicht Vaterhaus (!) heimzukehren. Orpa kehrt nach Naomis dritten Appell schweren Herzens heim. Ob Naomis Bitterkeit und Zweifel an Gottes Güte sie verunsichert haben, so dass Orpa nicht wagt, den Verheißungen des Gottes der Juden zu vertrauen? Ruth bekennt sich zu Naomi und zu ihrem Gott: „Wo du hingehst, will auch ich hingehen, wo du bleibst, wörtlich ‚übernachtest‘, will auch ich bleiben bzw. übernachten, dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott.“ Ihre Treue zu Naomis Gott und Volk soll bis zum Tod dauern, benennt Ruth klar und deutlich.

Ich stelle mir vor, wodurch diese tiefe Verbundenheit zwischen den Frauen entstanden ist. Naomi muss ihre Schwiegertöchter ermutigt haben, war wahrscheinlich das Herz der Familie, so klingt es an in ihrem Hinweis aufs Mutterhaus und der Bereitschaft der Schwiegertöchter, mit ihr zu gehen. Aus Naomi, der Lieblichen, Liebenswerten, wird durch den Tod des Ehemannes und der Söhne, die die Frauen unversorgt und kinderlos zurückließen, Mara, „die Verbitterte“. Ruth könnte ihrer Schwiegermutter, die ihr viermal genau das nahelegt, alles Gute wünschen und sie ziehen lassen. Aber sie geht mit. Die Nichtjüdin Ruth wagt den Anfang im fremden Land. Hier kehrt sich die Geschichte um: Vorher musste Naomi in der Fremde zurechtkommen, fremdelte vielleicht mit Moab, seiner Kultur und den Menschen, jetzt wagt Ruth den Schritt ins Unbekannte und geht, leidet und trägt mit. In ihren Worten kommt Entschlossenheit und Verbundenheit zum Ausdruck, in ihrem Handeln Güte und Hingabe, und Ruth erscheint bemerkenswert unsentimental und pragmatisch. Sie klagt weder noch sehnt sie sich, zumindest nicht ausdrücklich, danach zurück, wie es vor dem Tod der männlichen Verwandten war. Früher sagte man zu diesem Mut: Beherzt oder jemand fasst sich ein Herz – wie Ruth.

Wo finden wir heute diesen Mut, Grenzen zu überschreiten? Meist fremdeln auch wir mehr oder weniger stark mit Neuem und Unbekanntem, mit Veränderungen. Veränderungen, die Corona mit sich brachte, wurden beklagt und abgelehnt. Wenige fremdelten mit dem Tragen von Masken, einige entwickelten Theorien, was das Tragen einer Maske anrichten könne: Mir wurde beschrieben, wie durch das Tragen von Masken schon Schüler an Lungenentzündung erkrankt oder gar verstorben seien. Wenn das Tragen medizinischer Masken die Gesundheit in solch schwerwiegendem Maße gefährdete, wüsste ich nicht, wie ein Team im Operationssaal arbeiten können sollte, für das schon vor der Corona-Pandemie stundenlanges Maskentragen verpflichtend war… Fremdeln, Misstrauen gegenüber Unvertrautem, Abneigung gegen alles Fremde – was für Kinder ein Schutz vor Gefahr sein kann, kann Erwachsene gefährlich sein. Jede Grenze, die wir in unserem Kopf errichten, schränkt uns selbst ein.

An Ruth fasziniert mich ihre Beherztheit. Sie bekennt sich zu Naomis Gott, obwohl ihre jüngste Erfahrung mit ihm war, dass er ihren Mann nicht vor dem Tod bewahrt hat. Dennoch: Dein Gott ist mein Gott, sagt sie, eine Frau, die schwere Zeiten erlebt hat und trotzdem verbunden bleibt und sich nicht abwendet. Das verleiht Ruths Worten als Trauspruch eine tiefe Hingabe, die aussagt, dass man auch in schweren Zeiten treu sein will.

Wir sehen an Ruths weiterem Weg, dass Gott nach schweren, dunklen Erfahrungen Israel Zukunft und Heilung schenkt, in Ruths Fall gerade durch sie, die Fremde: Denn die Moabiterin Ruth heiratet Boas und bekommt einen Sohn, Obed, dessen Sohn Isai der Vater König Davids ist. Ruth wird von Matthäus als Davids Urgroßmutter im Stammbaum Jesu in Kapitel 1 erwähnt, als eine von nur vier Frauen und Vorfahrinnen Jesu, alle aus heidnischen Nachbarvölkern stammend.

Ruth ist nicht nur durch die Erwähnung im Stammbaum Jesu besonders. Sie handelt gütig, und in ihrem Handeln kommt Gott zum Vorschein: Ubi caritas et amor, ibi deus est – „Wo die Liebe wohnt und Güte, da ist unser Gott“, heißt es in einem alten Lied in Anlehnung an den 1 Johannesbrief. Ruths Gelübde und Handeln sind ein Bekenntnis zu Gott. Sie bindet sich nicht nur an Naomi, sondern auch an Gott und an sein Volk, und Gottes Güte zeigt sich in Ruths Geschichte in mehrfacher Hinsicht: In Ruths Mut und Treue, Naomis List und Energie beim Einfädeln der Ehe mit Boas, die Ruths Zukunft sichern soll, und Boas‘ Großzügigkeit der mittellosen Fremden gegenüber.

Ruth, die Fremde, ist Vorgängerin und Wegweiserin, die uns zeigt: Gottes Güte ist grenzenlos. Keiner und keine ist von ihr ausgeschlossen. Dank Jesus ist Gottes Güte auch an uns sichtbar und wirksam geworden. Auch wir, die Fremden, die Nicht-Juden, sind in der Taufe in seine Familie aufgenommen und zu Gottes Kindern und Geschwistern Jesu geworden.

Amen