Ewigkeitssonntag

Predigt zu Offb 21, 1-7 für den Ewigkeitssonntag, 22. 11. 2020

Liebe Gemeinde,

Es gibt nichts Zärtlicheres, als einem weinenden Menschen sanft die Tränen abzuwischen. In unserem Predigttext ist das ein stiller, zärtlicher, intimer Moment, voller Geborgenheit und Trost inmitten eines gewaltigen Geschehens.

Es ist gewaltig, weil hier nicht nur repariert wird, was zerbrochen ist, sondern alles neu erschaffen wird: Ein neuer Himmel, eine neue Erde. Neu und ganz anders wird es dann sein. Es gibt keinen Hass, keine Gewalt, kein Geschrei, kein Leid, keinen Schmerz, keinen Tod mehr. Es ist eine so neue Schöpfung, dass wir über sie nur sprechen können, sie uns nur vorstellen können, indem wir verneinen, was wir von dieser Welt kennen, sagen, was alles nicht mehr sein wird, aber keine Worte und Bilder finden dafür, was dann sein wird. Ein neuer Himmel, eine neue Erde, völlig anders als das, was wir hier erleben. Und neu, nie dagewesen ist auch, dass nicht wir Menschen uns dem Himmel entgegenstrecken müssen, sondern uns der Himmel entgegenkommt.

Siehe, das Alte ist vergangen.

Aber die Tränen bleiben… Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.

Alles ist anders, aber die Tränen, die uns mit unseren Verstorbenen verbinden, überdauern, die Verbindung bleibt, zwischen unserer und der neuen Welt. Jetzt und dann, verbunden durch unsere Tränen und unsere Erinnerungen. Was wir hier erlebt und erlitten haben, wird nicht einfach übergangen, ungeduldig, wie es ein König befehlen würde, der erhaben und entrückt auf seinem Thron sitzt. Es wird liebevoll und zugewandt wahrgenommen und bewahrt, jede Träne.

Viele von uns haben Tränen vergossen in den letzten Wochen und Monaten. Haben am Sterbebett, am Grab, allein im Stillen oder offen mit anderen geweint. Tränen der Trauer um einen Menschen, der fehlt. Tränen der Erleichterung, weil unerträgliches Leiden vorbei ist. Tränen, weil es so sehr schmerzt, einen Menschen zu verlieren und ihn jeden Tag zu vermissen, ihn nicht mehr in den Arm nehmen zu können, nicht mehr mit ihm sprechen zu können. Tränen der Verzweiflung: Wie soll es weiter gehen? Wie soll man nach dem kurzen Moment nach dem Aufwachen, wenn die Welt noch verheißungsvoll erscheint, bevor der Schmerz wieder ins Bewusstsein rückt, noch die Kraft finden für die kommende Zeit? Tränen der Trauer um versäumte Momente, um das, was nicht war und was doch hätte sein können. Tränen, die nicht aufhören wollen zu fließen, vielleicht auch ungeweinte Tränen, die noch nicht fließen können. Tränen der Rührung, wenn Erinnerungen uns in eine andere Zeit zurückversetzen.

Tränen fließen, damit Trauer uns nicht lähmt und erstarren lässt. Tränen können heilsam sein. Auch der neue Himmel kennt Tränen, weil sie Erinnerungen bewahren: Nur um das Verlorene weiß, kann weinen. Gott sagt: Ich will jede Träne abwischen von deinen Augen. Ich will trösten, wie eine Mutter tröstet, und jede einzelne Träne trocknen, mir Zeit nehmen zu trösten und zu heilen – und die Erinnerung an die Freude, die Erinnerungen, die Trauer und den Schmerz zu bewahren, die in den Tränen eingeschlossen sind.

So zugewandt kann nur sein, wer behutsam und vorsichtig ist, um meine Verletzlichkeit weiß und mir wirklich nahe ist. Jemand, der sich selbst berühren und anrühren lässt. Das kann nur jemand sagen, der selbst Leid und Trauer erlebt und am eigenen Leib gespürt hat.

Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen.

Wörtlich steht da: In einem Zelt. So nah kommt uns Gott. Durch einen Zeltstoff hindurch kann ich zumindest Umrisse erkennen, da ist nur die dünne Stoffwand, die Atemgeräusche, Worte und Weinen durchlässt. Gott hört Weinen, auch unterdrücktes Schluchzen und wischt die Tränen ab. Näher kann uns Gott nicht kommen.

Als Jesus stirbt, zerreißt der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel. Gott ist ganz nah, ganz da – nichts trennt uns mehr von ihm. In Jesus hat sich Gott verletzlich und anrührbar gemacht.

Tränen können die Freunde Jesu nicht weinen, als sie nach Emmaus zurückkehren. Sie sind wie erstarrt. Erst als sich ihnen der dritte anschließt, können sie über ihren Schmerz sprechen: Wie weh es tut, dass Jesus tot ist, und wie sehr sie ihn vermissen. Über ihre Ratlosigkeit, die Frage, ob alles, was Jesus ihnen erzählt hat, weiter gilt und trägt? Und ihre Verzweiflung, weil sie nicht wissen, wie es weitergehen wird.

Der unbekannte Wanderer hört ihnen zu, antwortet und hilft ihnen, den Tod ihres Freundes zu begreifen. Sie bitten ihn zu bleiben, denn seine Nähe tröstet sie und gibt ihnen Halt, auch wenn sie noch gar nicht erkannt haben, wer da mit ihnen unterwegs ist. Vielleicht geht es uns auch manchmal so, dass wir meinen, jemanden zu spüren: Eine stille Gegenwart, die uns hilft. Eine ruhige Gegenwart, die Erinnerungen nach einer Weile tröstlich sein lässt und nicht mehr so schmerzhaft wie am Anfang. Das tut der Fremde für die beiden Freunde. Er erinnert sie daran, was Jesus ihnen gesagt hat. Dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Dass einmal Gott trösten und heilen wird.

Dann werden noch andere Erinnerungen wach: Der Fremde bricht das Brot. So, wie es Jesus immer getan hat. Und da erkennen die Freunde ihn, und obwohl Jesus danach verschwindet, sind sie so voller Freude, dass sie nach Jerusalem zurückkehren, um allen von ihrem Erlebnis zu erzählen.

Und er wird bei ihnen wohnen.

Gott ist da, wo wir durch ein Wort getröstet werden. Wo uns die Nähe anderer Menschen Kraft gibt. Wo wir im Gebet spüren, dass wir uns anlehnen dürfen. Wo wir in Jesu Namen zusammenkommen, Brot brechen und teilen. Dann erleben wir: Gott ist da. In Trauer, im Sterben, im Tod. Gott ist da und bleibt bei uns.

Als Johannes auf Patmos ist, voller Angst, allein, traurig, verbannt, sieht und spürt er doch die Nähe Gottes und der neuen Welt, hat vielleicht sogar selbst spüren dürfen, wie Gott seine Tränen abwischt.

Ich wünsche uns allen, dass wir an diesem Tag etwas von Gottes Ewigkeit und von seiner Nähe spüren können. Der Nähe Gottes, der sich so zärtlich um seine verletzten, trauernden Kinder kümmern will. Der inmitten des gewaltigen Schöpfungswerks noch die Tränen eines jeden bemerkt und sich Zeit nimmt zu trösten und Tränen zu trocknen. Möge uns die Ewigkeit sanft und tröstlich anrühren: Wie Gottes Hand, die sanft unsere Tränen abwischt.

Himmel und Erde, alles wird neu. Aber Gott ist immer noch da und bleibt. Alpha und Omega, Anfang und Ende, und der, der alle Tränen, auch die ungeweinten, abwischen wird.

Amen.