5. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

Vor einigen Jahren war ich zu Beginn der Sommerferien mit der Metzinger Kirchengemeinde auf dem Roßfeld zum Klettern. Wir zogen mit einer Gruppe eifriger Acht- bis Zehnjähriger los, und nach einer kurzen Einweisung kletterten die Kinder alle ohne Angst oder Zögern am Felsen.

Ein Junge konnte es kaum erwarten, loslegen zu dürfen, so dass ich ihn mehrfach bitten musste, kurz stillzuhalten, damit ich alle Knoten und alle Karabiner und Schnallen in Ruhe überprüfen könnte: Beim Klettern gilt die Weisheit „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Kaum hatte ich ihm das Startsignal gegeben, schoss er praktisch den Felsen hinauf. „Ich bin oben“, tönte es dann triumphierend von oben herab, als er sich an den Felsen klammerte wie ein Äffchen. Ich hatte erklärt, dass er nicht über die Kette mit den beiden Ringen hinaussteigen dürfe. „Jetzt machst du das, was wir vorher besprochen haben“, meinte ich munter. „Du lässt den Felsen los, fasst mit beiden Händen ans Seil und ich lass dich wieder runter.“ Es war kurz still, während der Junge sich seine Optionen durch den Kopf gehen ließ: Festhalten an grundsolidem und verlässlichem Felsen, bei dem man weiß, was man hat, der ja schon einige Jahrmillionen auf dem Buckel hat, gegen ein bei genauerer Betrachtung eher dünnes Seil und eine Frau, die er erst an diesem Morgen kennengelernt hatte? Sie ahnen schon, dass ich bei diesem Vergleich nur verlieren konnte. „Ähm“, schlug er mir zaghaft vor, „vielleicht könnte ich ja einfach hier oben bleiben? Oder einfach herunterklettern?“ „Hast du denn gar keinen Hunger?!“ rief ich flehend hinauf, denn ich hatte Hunger, und oben an der Grillstelle hatte die Begleitmannschaft gerade mit dem Grillen begonnen. „Och, nö, ich hab keinen Hunger!“ tönte es bemüht fröhlich von oben herab. Wenn man 15 Meter unter einem verängstigten Menschen steht, ist es nicht leicht, ihn davon zu überzeugen, sich einem anzuvertrauen. Da schlenderte ein anderer Junge zu mir her. „Was hat denn der Tim?“ fragte er nach einem interessierten Blick hinauf. „Och, der schaut sich nur noch ein bisschen die Aussicht an“, versuchte ich abzulenken. Kurz war es still, dann rief der Junge neben mir plötzlich laut: „Du, Tim, du kannst ruhig loslassen, ich bin vorhin auch bei der Frau Pfitzer geklettert, und mich hat sie auch nicht fallen lassen!“

Obwohl es jetzt schon einige Jahre her ist, erinnere ich mich, mit welcher Selbstverständlichkeit der Kleine „okay!“ sagte, den Felsen losließ und sich von mir abseilen ließ. Ich war besonders bemüht, dass es ja nicht ruckelte, und als er unten war, strahlte er über beide Backen. Ich lobte alle beide. Besonders den Jungen, der nicht gespottet hatte, und der meinte: „Ist ja auch schwer, das erste Mal abgeseilt zu werden!“ Das ist es, weil man ganz von einem anderen abhängig ist, weil man sich ganz auf den anderen verlassen, die Kontrolle abgeben und sich fallenlassen lassen muss – etwas, das jedem Menschen schwerfällt.

Dieses Jahr haben wir alle erlebt, wie unser Alltag plötzlich unserer Kontrolle entzogen war. Felsenfeste Gewissheiten, wie die Schulzeiten, wie die Tatsache, dass sonn- und feiertags verlässlich Gottesdienste gefeiert wurden, erwiesen sich von einem auf den anderen Tag als nicht so unumstößlich, wie wir alle geglaubt hatten. Wir mussten auf die Erkenntnisse von Medizinern und Experten, Politikern vertrauen und uns an vielen Stellen auf die Rücksicht unserer Mitmenschen verlassen – was hier bei uns hervorragend funktioniert hat, während anderswo immer neue Infektionen aufflammen oder Demonstrationen gegen Einschränkungen deutlich zeigen, dass viele Politikern und Gesundheitsämtern nicht oder nicht mehr vertrauen.

Seit März ist unsicher, wie es weitergeht, wir können nur von Tag zu Tag, Woche zu Woche, planen. Wir wissen nicht, was kommt. Es ist die Situation, die seit Anbeginn der Bibel immer wieder Menschen bewältigen mussten: Abraham wird von Gott fortgerufen aus seiner Heimat Ur. Er soll sich auf den Weg machen und in ein unbekanntes Land ziehen. Abrahams Pläne, seinen Besitz seinem Neffen Lot zu vererben, werden von Gott völlig verändert: Abrahams eigenen Nachkommen soll Besitz und Land zufallen. Versuche, selbst bei der Verwirklichung nachzuhelfen, schlagen fehl: Als Sara ungeduldig wird und Abraham auf ihr Drängen mit ihrer Sklavin Hagar einen Sohn zeugt, wird Sara später, als ihr eigener Sohn Isaak auf der Welt ist, so eifersüchtig, dass Abraham Hagar und den gemeinsamen Sohn in die Wüste schicken muss. Abrahams Vertrauen muss sich erneut bewähren, als Gott ihm aufträgt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Auf Isaaks Enkel, die zwölf Söhne seines Sohnes Jakob, gehen die zwölf Stämme Israels zurück.

Jakob flieht nach einem Streit mit seinem Bruder in die Heimat seiner Mutter, die er vorher nie gesehen hat, später fliehen seine Nachkommen aus der Sklaverei in Ägypten. Ein langer und gefährlicher Weg, der ihr Vertrauen in Mose und Gott immer wieder auf eine harte Probe stellt, wenn sie in ausweglose Situationen geraten wie am Schilfmeer, vor sich das Wasser, hinter sich die Armee des Pharao, hungernd und durstend in der Wüste, von Giftschlangen geplagt – immer wieder erschüttern Zweifel ihr Vertrauen auf Gottes Versprechen, das Gelobte Land zu erreichen.

Propheten wie Jesaja werden aus ihrem geruhsamen, vorherbestimmten Alltag herausgerufen, so wie später Simon und seine Freunde am See. Aber alle, die Gottes Ruf gehört haben, den Fels des Vertrauten loslassen und sich ganz und gar Gott anvertrauen sollten, haben gleichzeitig auch gehört, was Jesus zu Simon sagt: „Hab keine Angst!“ Fürchte dich nicht, sagt Gott Jesaja, ich kenne dich, ich bin bei dir, ich lasse dich nicht allein. Fürchte dich nicht, ich bin bei dir, ich helfe dir, verspricht Gott Josua, als der von Mose die Verantwortung des Anführers übernimmt und vor der großen Aufgabe steht, die Israeliten in ein neues und unbekanntes Land zu führen. 70mal wird Menschen im Alten und Neuen Testament gesagt: Hab keine Angst!

Hab keine Angst, sagte der eine Junge zu dem oben am Felsen, sie lässt dich schon nicht fallen. Nur wer sich traut, so zu vertrauen, wie es Simon getan hat – weil du es sagst, will ich die Netze auswerfen, Herr – erlebt Gehalten- und Getragensein. Körperlich lässt sich Gehaltenwerden beim Klettern und Abseilen erleben, im übertragenen Sinn erlebt es Simon, als entgegen seiner jahrelangen Erfahrung als Fischer die Netze tagsüber brechend voll mit Fischen sind – zu einer Zeit, in der normalerweise niemand Fisch fangen kann, weil sich die Fische verstecken. Gott hält sein Versprechen, sein Versprechen trägt. Die anderen müssen sogar mithelfen, damit das Boot unter der schweren Last nicht sinkt. Dieser Überfluss, den Lukas so beschreibt, ist ein einprägsames Bild für die reiche Belohnung, mit der Gott diejenigen beschenkt, die sich ihm anvertrauen. Abraham erlebt die Erfüllung seines Vertrauens in der Geburt seines Sohnes, Mose darf einen Blick ins Gelobte Land werfen – sie erleben, dass Gott seine Versprechen einhält, dass seine Zusage: Ich bin bei dir, du musst keine Angst haben, verlässlich ist.

Simon und die anderen erleben Gott in Jesus als verlässlich und treu. Sie verlassen ihren Alltag, ihre Boote, ihre Familien und gehen mit Jesus ins Unbekannte. Den Halt im Gewohnten und Vertrauten geben sie auf. Sie erleben eine andere Form von Halt: Halt durch Verbundenheit. Verbundenheit, wie wir sie auch in der Gemeinde erleben. Wir kennen einander, wissen voneinander, finden Halt beieinander und geben einander Halt. Vertrautheit und Gemeinschaft können nur wachsen, wo Menschen einander vertrauen. Vertrautheit und Verbundenheit mit Gott brauchen unser Vertrauen auf seine Zusage, dass er uns nicht allein lässt. Simon vertraut so, Jesus gibt ihm sogar den Namen Fels, griechisch Petrus, weil sein Vertrauen so stark ist. Trotzdem kennt auch Simon Petrus Zweifel und Angst, so stark, dass er seinen Freund Jesus verrät.

Vertrauen braucht immer Überwindung. Wir müssen unsere Ängste und Zweifel überwinden, müssen unsere Hände, die sich an das Vertraute und Felsenfeste klammern, überzeugen, dass Gottes Zusage verlässlicher ist als der stärkste Fels. Fels überdauert unvorstellbar lange Zeiträume und wird doch letztendlich von Wasser, Wind und Kälte abgetragen. Gottes Wort überdauert: Am Anfang war das Wort, beginnt Johannes sein Evangelium, Himmel und Erde vergehen, meine Worte bleiben, sagt Jesus. Gottes Wort wurde in Jesus Mensch. Simon und seine Freunde haben in Jesus die Verlässlichkeit und die Treue, die unerschütterliche Liebe Gottes erfahren. Sie haben Jesus vertraut, der ihnen versprochen hat: Ihr müsst keine Angst haben. Alles kann sich verändern, aber ich bin immer bei euch. Das wird sich nie ändern.

Amen