7. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

Plötzlich steht der unerwartete Besucher da. Niemand wusste, dass er kommt. In der Nähe des heutigen Hebron in Israel, im Hain Mamre, vor vielen tausend Jahren, springt Abraham auf und läuft drei Fremden entgegen. Sirchingen, 1. Januar 2020: Ein Gottesdienstbesucher sieht einen Fremden über die Straße irren und geht ihm nach.

Abraham bittet die Fremden: Ich bringe Wasser, wascht euch, ruht euch im Schatten aus, meine Frau Sara bringt Essen und Getränke, und dann können wir uns unterhalten. Der Fremde in Sirchingen wird gefragt: Möchten Sie Kaffee? Saft? Kekse? Möchten Sie sich hinsetzen? Was kann man für Sie tun? Wohin möchten Sie, wen wollen Sie besuchen, sollen wir jemanden für Sie anrufen?

Vergesst die Gastfreundschaft nicht, mahnt der Verfasser des Hebräerbriefs. Der Hebräerbrief ist eine Predigt in Briefform, eine Form, die uns dank Corona wieder näher gerückt ist. Die Predigt soll offenbar eine in Vergessenheit geratene Form der Nächstenliebe wieder in Erinnerung rufen. Gastlichkeit wurde im Alten Orient und in Israel zu allen Zeiten hochgehalten. Einem Gast durfte kein Unheil geschehen, alle Streitigkeiten und Fehden mussten ruhen.

Rahab wird – im Hebräerbrief selbst – als Beispiel für vorbildlich gelebte Gastfreundschaft genannt. Rahab nimmt die israelitischen Kundschafter bei sich auf und verhilft ihnen zur Flucht, als die Soldaten die Fremden gefangen nehmen wollen. Umgekehrt wird später Rahab mit ihrer Familie von den Israeliten verschont – der Schutz durch Gastfreundschaft ist ein gegenseitiger. Elia kommt nach Sarepta, als dort gerade eine große Hungersnot herrscht – trotzdem ist eine Witwe bereit, ihn bei sich aufzunehmen, und das wenige, das sie und ihr Sohn noch zu essen haben, mit dem Gast zu teilen. Tobit und Gideon handeln ebenfalls gastfreundlich.

Begegnungen mit Fremden sind immer spannend. Was erzählen die drei Fremden denn da? wundert sich Sara. Ich soll ein Kind zur Welt bringen, obwohl ich längst zu alt dafür bin? Ungläubig lacht sie. Es ist unhöflich, über Gäste zu lachen, es ist ihr peinlich, dass die Gäste es bemerkt haben, und sie versucht sich vergeblich herauszureden.

Auch in Sirchingen wird geschmunzelt. Beispielsweise, als der Gast aus Frankreich entsetzt aufstöhnt: Deutschland? Wie sei denn das passiert? Da denke man, man sei in Frankreich, und dann lande man plötzlich in Deutschland?!

Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn der Mensch, der da kommt, bringt auch Gott herein. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen, erinnert Jesus seine Jünger. Ich habe angeklopft, und ihr habt mir die Tür aufgemacht. In der damaligen Welt war die Fürsorge für Fremde, Kranke und das Besuchen der Gefangenen für diese überlebenswichtig – es gab keine Diakonie, keine Krankenhäuser oder Notunterkünfte, wie wir sie kennen. Wer in Not geriet, war ganz auf die Hilfe der Familie und der Freunde angewiesen. Es gab Wirtshäuser, wissen wir aus der Geburtsgeschichte Jesu, aber nicht überall und mit unterschiedlichen Auffassungen von Gastfreundschaft. Wer nicht bezahlen konnte, hatte keinen Anspruch auf Unterkunft.

Wer als Besuch kommt, bringt immer auch Gott mit, und damit verändert sich alles. Abrahams und Saras Welt wird völlig verändert durch die Ankündigung der Fremden, dass die beiden einen Sohn bekommen. Maria, eine junge Frau, bekommt später dieselbe Ankündigung: Auch sie soll einen Sohn zur Welt bringen, ihr Kind wird ein ganz besonderes. Ein Engel besucht den müden und erschöpften Elia in der Wüste, als der nur noch sterben möchte, und führt ihn zu Wasser und Nahrung. Ein Engel besucht die Hirten und bringt sie dazu, ein Kind in einem Stall zu suchen und auf dieses Kind ihre ganze Hoffnung zu setzen. Ein Engel kommt zu Jesus und stärkt ihn im Garten Gethsemane. Und Engel schicken die trauernden Frauen, die zu Jesu Grab kommen, mit einer Botschaft voller Leben und Hoffnung zurück ins Leben.

Wer da kommt, könnte ein Engel sein, erinnert der Verfasser des Hebräerbriefs. Man sieht es nicht immer sofort, aber man spürt die Veränderung. Die Welt ist plötzlich eine andere. Für Sara und Abraham, für Maria und auch für Rahab und ihre Familie, die unter Lebensgefahr die Gäste schützen und dadurch selbst gerettet werden.

Vergesst nicht die Gastfreundschaft: Die Fürsorge für Schwächere, Misshandelte und Geflüchtete war schon immer Zentrum der christlichen Gemeinde, genau wie der Gottesdienst und der Zusammenhalt in der Gemeinde – wie wichtig Begegnungen und gemeinsam gefeierte Gottesdienste sind, und wie schmerzlich beides vermisst wird, haben uns die starken Einschränkungen durch Corona gezeigt.

Die Gemeinde nimmt auch unbekannte oder neu hinzukommende Menschen auf und an: Es war schön, dass sich das im Januar bei uns in Upfingen und Sirchingen so deutlich gezeigt hat. Der Fremde wurde aufgenommen, angenommen, mit Essen und Trinken versorgt, es wurde jemand gerufen, der sich in seiner Muttersprache mit ihm verständigen konnte, und Tage und Wochen später erkundigten sich Gemeindeglieder bei Besuchen oder zufälligen Begegnungen nach dem Überraschungsgast. Es berührt mich immer noch.

Jeder Gast bringt Gott herein, erklärt Jesus. Wer sich um den Geringsten unter euch kümmert, sagt er seinen Freunden, kümmert sich um mich. Jeder Gast ist eine Verbindung zum Himmel. Nicht jeder Besuch kommt uns entgegen, manch unerwarteter Besuch stellt unseren Alltag auf den Kopf, bringt uns aus dem Takt, wirft unsere Pläne über den Haufen, macht Mühe und Umstände. Sara und Abraham, Maria und Rahab erleben es so.

Aus Sorge, dass unser Gast ansteckend krank gewesen sein könnte, wusch ich mir gründlich die Hände und lüftete das Gemeindehaus so ausgiebig wie es die jetzt gültigen Hygieneregeln verlangen. Aber alle Gäste, ob freudig eingeladen oder unerwartet und womöglich unbequem, gesund oder krank, willkommen und freudig erwartet oder zum ungünstigsten Zeitpunkt eingetroffen: Sie alle verbinden uns mit dem Himmel und bringen Gott herein.

Unser französischer Gast war für uns womöglich ein Engel, der uns gezeigt hat, in welchem großen Maß Nächstenliebe und Fürsorge in unserer Gemeinde lebendig sind und wie Menschen füreinander sorgen können, ohne dieselbe Sprache zu sprechen. Vielleicht sind Engel alle, die von solchen guten Erfahrungen mit anderen Menschen und anderen Kulturen erzählen, als Boten einer Menschenfreundlichkeit, die unsere Gesellschaft so dringend braucht?

Vielleicht nehmen wir sie am Anfang nicht ernst, wie Sarah. Wissen nicht, was sie eigentlich suchen, so wie es uns mit unserem französischen Überraschungsgast am Neujahrstag hier in Sirchingen ging. Auch wenn es durch Corona schwerer geworden ist, unbefangen Besuch zu haben und Besuche zu machen, suchen und fördern wir trotzdem Begegnungen und Nähe. Damit die Welt eine andere wird. Eine größere, weitere, freundlichere und herzlichere Welt. Eine, die Raum bietet für Gottes Engel, Raum für Begegnungen und Raum für seine Freundlichkeit.

Amen