1. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

„Alle Jubeljahre einmal“ sagt man, wenn etwas sehr selten geschieht: Alle Jubeljahre einmal kommt jemand zu Besuch oder ruft an. Der Ausdruck stammt aus dem Alten Testament. In Israels Gesetzen gab es Vorschriften für ein ganz besonderes Jahr: Es wurde feierlich mit Hörnerklang eröffnet; Hörner, die auf Hebräisch Jobel heißen – deshalb Jobel- oder Jubeljahr. Mit der Redewendung „alle Jubeljahre einmal“ und dem Begriff „Jubiläum“ fand das Erlassjahr Eingang in unsere Sprache und unser Denken: Es ist etwas Besonderes.

Das Wort „Jubilieren“ kommt zwar aus dem Lateinischen und nicht dem Hebräischen, aber Grund zum Jubilieren gab es im Jobeljahr vor allem für die, die heute ein Fall für Beratungsstellen und Sozialämter wären. Hart waren Jubeljahre für Spekulanten: Familien, die aus Not ihren Acker verkaufen mussten, mussten ihre Grundstücke zurückbekommen, Schulden mussten erlassen und Sklaven freigelassen werden. Es klingt fast ein wenig nach Sozialismus vor 2500 Jahren. Aber zum einen gibt es kaum Belege dafür, dass alles immer so umgesetzt wurde, zum anderen sah das Gesetz ein Jobeljahr nur alle 50 Jahre vor.

In Verbindung damit steht, was Lukas beschreibt, wenn er in seiner Apostelgeschichte das Zusammenleben der Christinnen und Christen in der Urgemeinde schildert: „Unter ihnen war keiner, dem es an etwas fehlte“. Was für eine Aussage! In ihr wird erfüllt, was Gott dem Volk Israel im 5. Buch Mose 15, 4 als Gebot gibt: „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein, denn der Herr wird dich segnen.“ Und Gott verspricht: „Unter dir wird es keinen geben, der Not leidet“. Dtn 15 berichtet vom Erlassjahr. Alle Besitzverhältnisse müssen zurückgeführt und alle Schulden erlassen werden, damit keiner sich über Generationen hinaus verschuldet und Not und Armut vererbt werden. Wir kennen ein ganz ähnliches Prinzip: Den sogenannten Schuldenschnitt. In diesem Geiste gründete sich die Initiative „Erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung“, deren Logo eine Kette mit einem zersprungenen Glied zeigt. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Paulus verwendet den Begriff Glied ebenfalls und vergleicht uns Menschen mit Gliedern eines Körpers: Miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. So verstanden bedeutet Solidarität: Wenn ein Glied leidet, leiden alle mit. Es kann nicht eines auf Kosten der anderen handeln.

Lukas beschreibt die Urgemeinde als Gegenentwurf zu ihrer Umwelt: Während in der Gesellschaft Stand und Schicht die Menschen trennen, Reiche von Armen, Freie von den Sklaven, sind in der Urgemeinde alle ein Herz und eine Seele, berichtet der erste Vers unseres Predigttextes. Paulus bestätigt und bekräftigt diese Einheit, wenn er an die Galater schreibt: „Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, unfreie Diener oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr alle wie ein Mensch geworden.“ (Gal 3,28)

Mit Ostern und Pfingsten beginnt ein neues Sein: Ein Füreinander-Da-Sein. Ein Zusammenwachsen zu einer Einheit und kein Besitzstreben einzelner auf Kosten oder zu Lasten anderer. An Ostern wird am Kreuz die menschliche Schuld erlassen. Dass die Gemeinde ein Herz und eine Seele ist, entspricht der Liebe zu Gott: Die Liebe zu Gott, den wir von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt lieben sollen, findet sichtbaren Ausdruck in der Nächstenliebe, denn Gottes Geist befähigt zu Zusammenhalt und Fürsorge.

Das Jubeljahr wird in der Urgemeinde verstetigt und eine neue Form von Gerechtigkeit entsteht. Das Erlassjahr korrigierte Fehlentwicklungen und Ungleichheit und schuf einen Ausgleich, aber die Form, in der die Urgemeinde ihren Besitz teilt, verhindert Ungleichheit von vornherein. In der Urgemeinde sind nicht alle gleich, was ihre Bedürfnisse angeht, aber alle Bedürfnisse sind gleichbedeutend. Wer eine Familie hat, braucht mehr Kleidung und Nahrung und mehr Raum als eine alleinstehende Person. Die Gerechtigkeit besteht nicht darin, dass jeder drei Zimmer, drei Brote und drei Gewänder bekommt. Für die einen, die Verwitweten oder Unverheirateten, wäre das zu viel und ein Teil des Essens würde verderben, während für die mit großen Familien die gleiche Menge an Nahrungsmitteln unter Umständen zu wenig wäre und nicht alle satt würden.

Gerechtigkeit, wie sie die Urgemeinde lebt, bedeutet nicht, dass alle genau dieselbe Menge oder dieselben Dinge bekommen, sondern jeder und jede bekommt, was er oder sie braucht, in ausreichender Menge, nicht zu wenig und nicht zu viel. Darin sind alle gleich: Kein Bedürfnis ist wichtiger als das eines anderen. Es ist die Form der Gerechtigkeit, die am schwersten zu leben und zu vermitteln ist, weil sie Menschen scheinbar doch wieder ungleich behandelt: Nicht dieselbe Menge, nicht dieselben Dinge…

In Kirchengemeinden versuchen wir, als Christinnen und Christen, dieses Füreinander-Da-Sein und eine Gerechtigkeit zu leben, die nach dem schaut, was der oder die Einzelne benötigt, an Zeit, an Zuwendung, an materieller Hilfe auch über die eigene Gemeinde hinaus. Zum Beispiel, wenn bei Gemeindefesten fair gehandelte Ware angeboten wird. Wir stoßen an Grenzen, spüren immer wieder, dass wir bei allem Bemühen nicht alle Bedürfnisse wahrnehmen oder nicht allen ganz gerecht werden können. Unsere Zeit, Mittel, eigene Bedürfnisse setzen uns Grenzen. Wir versuchen aber alle nach Kräften, zu geben und zu tun, was wir können – nicht mehr und nicht weniger, im Gottesdienst wie im Alltag.

Manche haben eine besondere Gabe des Zuhörens und können Menschen Zeit schenken und das Gefühl: Hier kann ich mich jemandem anvertrauen. Er oder sie wird mich nicht verurteilen, auslachen oder verächtlich anschauen. Er oder sie wird das Anvertraute nicht weitertragen, außer im Gebet vor Gott. Andere verfügen über nicht so viel Zeit oder Geduld, können aber dafür mit Gütern oder guten Worten helfen. So wie unsere Gaben einzigartig, aber gleich wertvoll sind, sind auch unsere Bedürfnisse einzigartig und gleich wertvoll. Mancher braucht Ruhe, um gute Worte finden oder sich Gott nah fühlen zu können, ein anderer das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein und kreativ mitmischen zu können.

Es gelingt nicht immer, alle Bedürfnisse wahrnehmen und stillen zu können, manchmal sind verschiedene Bedürfnisse auch nicht gleichzeitig zu erfüllen. Zu Beginn der Corona-Zeit bekam ich einen Brief, in dem jemand die Hoffnung äußerte, dass ohne die vielen Termine und den Zeitdruck mehr Raum für Besinnung sei, während gleichzeitig andere Kontakte und Gemeinschaft in Gruppen und Kreisen oder bei Besuchen vermissten.

Der Heilige Geist gibt uns Mut und Kraft, so bin ich überzeugt, damit wir uns Tag für Tag aufs Neue bemühen, aufeinander zuzugehen und aufeinander einzugehen. Er ermutigt uns, so zu leben wie Israel in der Wüste: Gott schenkt Manna für jeden Tag. Es ist immer die richtige Menge, nicht zu viel und nicht zu wenig. Wer sich darauf einlässt und nur nimmt, was er oder sie für diesen Tag braucht, erlebt, dass Gott an jedem Tag gibt, was Menschen zum Leben brauchen. Wir wachsen miteinander, auf der Grundlage, dass Gott uns unsere Schuld erlassen hat. Das macht uns frei – zu teilen und zu schenken, Zeit, gute Worte, Güter und Gaben: Jeden Tag, nicht nur alle Jubeljahre einmal.

Amen