2. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde!

Die Geschichte von den beiden verlorenen Söhnen ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Der Vater, der seinem Sohn mit weit geöffneten Armen entgegeneilt – das ist für mich ein besonders berührender Moment, ein tröstliches Bild. Besonders jetzt, da uns wahrscheinlich allen das selbstverständliche und alltägliche Berühren und Berührtwerden bei Begrüßung und Verabschiedung fehlt. Auf dem Liedblatt habe ich ein Bild abgedruckt, das den Moment zeigt, bevor der Vater seinen Sohn in die Arme schließt. Für mich passen Bild und Geschichte zu unserem heutigen Predigttext und dem Ruf Jesu, seiner Einladung: Kommt her zu mir! Ich will euch abnehmen, was euch belastet.

Das Möbelhaus IKEA hatte eine schöne Idee für ein Kissen: Ein Herz mit ausgebreiteten Armen. Weit offene Arme sind ein Zeichen, das wir alle ganz ohne Worte verstehen. Jesus hat so gelebt: Mit offenen Armen trat er Menschen entgegen, voller Liebe und Verständnis. Mit den Worten, die Jesus in unserem Predigttext spricht, schließt Matthäus den ersten Teil seines Evangeliums ab: Jesus hat die Gute Nachricht in die Welt gebracht und viele Wunder gewirkt. Er hat Armen, Kranken und Ausgegrenzten geholfen. Seine Mitmenschen haben von ihm gehört und fragen sich jetzt: Woher hat er seine Macht?

Johannes schickt aus dem Gefängnis seine Jünger zu Jesus und bittet diesen, ihm, Johannes, zu sagen, ob Jesus der Messias sei, dessen Kommen Johannes verkündet hat. Jesus schickt die Jünger mit einem Auftrag zu Johannes zurück. Sie sollen Johannes von den Wundern berichten, die sie gesehen haben: Blinde können sehen, Lahme gehen, Aussätzige sind geheilt. Johannes soll daraus seine eigenen Schlüsse ziehen. Nachdem er die Jünger zurückgeschickt hat, beklagt Jesus die Wankelmütigkeit und Verstocktheit der Menschen: Weil Johannes ein asketisches Leben in der Wüste geführt und nicht gegessen und getrunken habe, hätten die Menschen ihn als Besessenen bezeichnet und das als Rechtfertigung betrachtet, nicht auf ihn zu hören.

Weil er, Jesus, Menschen in ihren Häusern besuche und mit ihnen esse und trinke, werde er als Fresser und Weinsäufer bezeichnet und das sei die Rechtfertigung dafür, auch auf seine Worte nicht zu gehören. Gerade in den Ortschaften und Städten, in denen Jesus am meisten Wunder gewirkt habe, seien die wenigsten bereit gewesen, ihm nachzufolgen, sagt er. Dann folgen die Worte unseres Predigttextes, die wir in der Schriftlesung gehört haben. Jesus dankt Gott und lädt ein: Kommt zu mir! Ich will euch eure Last abnehmen.

Wir leiden nicht erst seit Corona unter verschiedenen Belastungen. Für Kinder und Jugendliche sind es oft die Ansprüche, die Schule und Ausbildung an sie stellen. Normalerweise bleibt für die meisten nicht viel Zeit übrig, die nicht bereits verplant ist. Auf einem Konfirmandenwochenende klopfte ich spätabends besorgt an eine Zimmertür. Aus den anderen Zimmern hörte man Gekicher, unterdrücktes Lachen, Rascheln von Chipstüten und Musik, während die Jugendmitarbeitenden, Frau Sachs und ich überall klopften und auf die Nachtruhe verwiesen. Hinter der Tür, vor der ich gerade stand, war es mucksmäuschenstill. Ist überhaupt jemand drin? überlegte ich, oder haben sich die Konfirmandinnen heimlich in ein anderes Zimmer geschlichen? Auf mein Klopfen ertönte ein freundliches „Herein!“, und als ich durch einen Spalt ins Zimmer spähte, sah ich die Bewohnerinnen brav in ihren Betten liegen. „Es ist so still bei euch“, wunderte ich mich, „ihr hört ja nicht mal Musik!“ Da wurde mir erklärt: „Frau Pfitzer, das würde uns beim Vokabellernen doch ablenken!“ Ich hatte die Mädchen dabei ertappt, wie sie sich um 22.30 Uhr noch Französisch und Englisch-Vokabeln abfragten… denn am Montag stand eine Klassenarbeit auf dem Programm, und sie wollten vorbereitet sein. Sie baten mich inständig, noch eine halbe Stunde lernen zu dürfen – eine Bitte, die ich seither nie wieder gehört habe! Ich freute mich über ihren Eifer, aber bedauerte, dass die Mädchen das Wochenende nicht unbeschwert genießen konnten.

Auch wir Erwachsenen kennen Belastungen. „Ich möchte niemandem zur Last fallen“, diesen Wunsch habe ich in den vergangenen Jahren von vielen Menschen gehört. Die meisten wissen, dass ihre Angehörigen schon vor Corona einen ausgefüllten oder gar hektischen Alltag zwischen Arbeit, Kindererziehung und Haushalt hatten. Für einige kommt noch die Sorge um älter oder krank werdende Eltern oder Partner, gegebenenfalls die Suche nach einem Pflegeplatz oder einer geeigneten Pflegemöglichkeit im häuslichen Umfeld hinzu.

Mit Aufkommen der Corona-Infektionen wurde manche Last leichter – manch staugeplagter Pendler konnte sich über das Arbeiten von zu Hause aus und mehr Zeit zur freien Verfügung freuen; doch gleichzeitig kamen Belastungen an anderer Stelle hinzu: Die Großeltern sollten die Enkel nicht mehr betreuen, Eltern mussten mehr Unterstützung bei schulischen Aufgaben leisten und ihrer eigenen Arbeit nachgehen, und alles auf teilweise engem Raum, während für andere über Wochen hinweg jeder Kontakt wegbrach. Corona führte zu mancher absolut unerwarteten Situation. Ausgerechnet die Afd beklagte die Belastung durch die Schließung der deutschen Grenzen, weil dadurch Arbeitskräfte aus dem Ausland an der Einreise gehindert würden – die Absurdität dieses Momentes versöhnte mich ein wenig damit, dass wir Ostern ohne Gottesdienste feiern mussten.

Viele helfen und halfen anderen seit vielen Wochen nach besten Kräften. Sie tun und taten es nicht, weil sie sich eine Belohnung erhoffen, sondern weil sie die Not der anderen sehen. Offene Herzen und tätige, weitoffene Arme kommen zum Vorschein, wo Menschen eine Stunde lang die Nachbarskinder oder Enkel beaufsichtigen, damit deren Eltern eine Aufgabe ungestört abschließen können, den Einkauf für jemanden erledigen, der nicht aus dem Haus gehen möchte oder darf, oder Mitmenschen und Welt in Gebet und Fürbitte einschließen. Wer die Arme verschränkt, zieht sich zurück. Wer sie weit ausbreitet, öffnet einen Raum für andere, der willkommen heißt und Begegnung und Miteinander ermöglicht.

Jesus starb, wie er gelebt hatte: Mit weit offenen Armen. Über die Ostertage ist mir das beim Blick auf das Auferstehungskreuz an meiner Wand wieder ganz deutlich bewusst geworden. Jesus lebte in enger Verbindung zu Gott und konnte aus der engen Beziehung zu Gott frei auf Menschen zugehen, ohne wie Gelehrte und Geistliche seiner Zeit auf seinen Status zu pochen, ohne sich auf Leistungen in Beruf oder Familienleben zu berufen. Seine Freundlichkeit, Sanftmut und Demut werden beim Einzug in Jerusalem für alle sichtbar. Auf dem Esel reitet einer, der nicht herrschen, sondern dienen will.

Die Botschaft des heutigen Sonntags und der Einladung Jesu sind die weitoffenen Arme: Kommt her zu mir, ich will euch eure Last abnehmen. Nicht wir selbst müssen uns und die Welt aus aller Gefahr, aller Sünde und Not erlösen. Jesus hat uns schon erlöst und wartet mit offenen Armen auf uns. Wenn wir von ihm lernen, seinem Weg nachfolgen, tun wir es als schon Erlöste und von aller Schuld Freigesprochene. Das Reich Gottes ist nicht eine Möglichkeit, die uns nach einem gottgefälligen Lebenswandel möglicherweise zuteilwird. Es ist schon jetzt unsere Wirklichkeit. Ansprüche unserer Mitmenschen an uns wie auch unsere eigenen Ansprüche an uns selbst erschweren und belasten uns manchmal. Der Blick auf Jesus erinnert uns daran: Alles wurde uns von ihm am Kreuz abgenommen. Wir sind befreit, entlastet.

Das Joch, von dem Jesus spricht, erweckte oft den Eindruck, als müsse man doch wieder hart an sich arbeiten – ein Joch hilft den Ochsen beim Pflügen aber auch, nicht vom Weg abzukommen, nicht aus der Spur zu geraten. So verstanden, kann das Joch, von dem Jesus spricht, uns davor bewahren, uns wieder zu viel Last aufzubürden. Zum Entlasten gehören immer zwei, erinnerte ein Kollege vor einer Weile: Einer muss bereit sein, dem anderen seine Last abzunehmen. Der andere muss aber auch bereit sein, seine Last abzugeben. Jesus wartet mit offenen Armen auf uns und darauf, dass wir ihm übergeben, was uns beschwert und belastet. „Ich meine es gut mit euch“, verspricht Jesus: Deshalb nennen wir ihn auch unseren Heiland.

Amen