Misericordias Domini

Misericordias Domini – Sonntag des Guten Hirten

Ein vertrautes Bild zieht sich durch die Texte, Gebete und Lieder des heutigen Sonntags: Der gute Hirte weidet seine Schafe und sorgt für sie. Manche Menschen empfinden das als schönes Bild für Geborgenheit und Nähe. Andere, meistens jüngere, haben das Gefühl, es widerspreche der menschlichen Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit. Heute hätten wir unter normalen Umständen Konfirmation gefeiert. Gerade junge Menschen spüren, dass die Welt immer komplexer und schwerer zu deuten wird. Der heutige Sonntag wirbt mit seinen Texten dafür, uns mit unserem Leben Gott anzuvertrauen. Gott nimmt sich als guter Hirte seiner Menschen an, verspricht der Prophet Ezechiel in Kapitel 34. Jesus setzt sich mit seinem Leben für die ihm anvertrauten Menschen ein. Unser Wochenspruch begleitet uns in die neue Woche:

Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben.

Johannes 10, 11 und 27-28

2002 erschien Dale Carnegies Ratgeber mit dem deutschen Titel „Sorge dich nicht, lebe!“ Er wurde ein Bestseller im Bereich Selbstverbesserung und Lebenshilfe. Das Buch gibt Ratschläge, wie man, laut Untertitel, zu einem „von Ängsten und Aufregungen befreiten Leben“ finden könne. Es ist kein schmales Buch, Selbstverbesserung geht offenbar nicht einfach und schnell.

Sorge dich nicht, lebe! ruft uns heute am Sonntag des Guten Hirten auch unser Predigttext auf. Aber er fordert uns nicht dazu auf, uns selbst immer weiter zu verbessern und uns zu einem möglichst perfekten Menschen zu machen. Wir müssen uns nicht sorgen, nicht selbst für alles Notwendige in unserem Leben sorgen, sagt der Verfasser des 1. Petrusbriefs, denn für uns ist gesorgt: Wir leben, weil Jesus für uns gestorben und auferstanden ist. Durch seine Wunden seid ihr geheilt, hören wir. Jesus selbst tritt für uns ein, für uns sorgt der Gute Hirte.

Denn auch Christus hat für euch gelitten. Er hat euch ein Beispiel gegeben, damit ihr ihm in seiner Fußspur nachfolgt. 22 Er hat keine Schuld auf sich geladen und aus seinem Mund kam nie ein unwahres Wort. 23 Wenn er beschimpft wurde, gab er es nicht zurück. Wenn er litt, drohte er nicht mit Vergeltung. Sondern er übergab seine Sache dem gerechten Richter. 24 Er selbst hat unsere Sünde mit seinem eigenen Leib hinaufgetragen an das Holz. Dadurch sind wir für die Sünde tot und können für die Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. 25 Ihr wart wie Schafe, die sich verirrt hatten. Aber jetzt seid ihr zu eurem Hirten und Beschützer zurückgekehrt.

1 Petr 2, 21–25

„Weil ich Jesu Schäflein bin“ – kennen Sie das Lied? Es begleitete Generationen von Kindern bis ins hohe Alter, darunter Hermann Hesse und Karl Barth. Im Kinderlied von Henriette Marie Luise von Hayn begegnet uns Bekanntes und Vertrautes: Psalm 23, das Gleichnis vom verlorenen Schaf und Jesu Versprechen aus Johannes 10,11.14, dass er selbst der gute Hirte ist, der seine Schafe beim Namen kennt:

1. Weil ich Jesu Schäflein bin, / freu‘ ich mich nur immerhin / über meinen guten Hirten, / der mich wohl weiß zu bewirten, / der mich liebet, der mich kennt / und bei meinem Namen nennt.

Zwei Wochen nach Ostern stellt der heutige Sonntag des guten Hirten die Frage, wie die Auferstehung, der Neuanfang, den uns Jesus Christus schenkt, wie der Inhalt unseres Glaubens unser Leben prägen kann und wir Halt und Orientierung finden. Beim Propheten Ezechiel in Kapitel 34, aber auch in Psalm 23, dem wohl bekanntesten Psalm, steht das Bild vom Hirten für Gottes Fürsorge für uns Menschen. Das Bild vom Hirten begleitet uns Menschen schon seit Jahrtausenden und spricht uns immer noch unmittelbar an. Erstaunlicherweise verbinden auch Menschen, die ihr Leben nur in Städten verbracht haben, mit dem Begriff des Hirten Worte und Gefühle wie Geborgenheit, Sicherheit, Schutz.

Beim Wandern begegnen wir öfter Schafen, im Wallis den Schwarznasenschafen. Schafe haben keinen guten Ruf, Schafskopf und das schwäbische „Schofseggel“ sind nicht wertschätzend gemeint. Ich finde, Schafe haben einen sehr seelenvollen Blick, wenn sie einen so nachdenklich anschauen, als wägten sie ab, ob eine nähere Bekanntschaft lohnend sein könnte oder doch die Beschäftigung mit dem Gras vorteilhafter ist. Die Lämmer sind unbefangener und staksen fröhlich herbei, und ein Schafbock, der auf einer Weide stand, an der unser Wanderweg beim Abstieg ins Tal vorbeiführte, kam an den Zaun und ließ sich während der Rast von uns genüsslich den Kopf kraulen und krabbeln. Als wir aufbrechen wollten, zeigte er sein Temperament: Er warf sich vehement gegen den Weidezaun, so dass der in eine äußerst bedenkliche Schieflage geriet. Mein Mann und ich beeilten uns, außer Sichtweite zu kommen – wir fürchteten, im Tal erklären zu müssen, wieso uns ein fremder Bock folgt. Noch zwei Kehren weiter hörten wir das vorwurfsvolle Meckern und Blöken des Bocks.

Hirten, denen ich die Geschichte erzählte, meinten, ja, so sei es mit Schafen: Das eine ist unternehmungslustig und möchte am liebsten alles erkunden. So wie das Schaf, von dem uns Lukas erzählt: Vielleicht hatte es eine aufregende Entdeckung gemacht und sich deshalb von der Herde entfernt. Andere Schafe fühlen sich am wohlsten, wenn sie direkt bei ihren Artgenossen sind. Wie wir Menschen hat auch jedes Schaf eine eigene Persönlichkeit. Dass ein Hirte seine Tiere kennt, zeigt die Nähe, die er zu den ihm anvertrauten Tieren hat. Auch hier auf der Alb begegnet man Hirten mit ihren Herden. Auf dem Truppenübungsplatz oder auf dem Roßfeld sind wir schon Hirtinnen und Hirten mit ihren Herden begegnet. Die zufrieden grasenden Tiere, die sich gut behütet fühlten, strahlten aus, was uns der Verfasser des 1. Petrusbriefs ans Herz legt: Für uns ist gesorgt. Wir müssen nicht selbst für uns eintreten und kämpfen, wir haben unseren Hirten, der für uns sorgt.

Nähe und Fürsorge, wie sie auch Psalm 23, Jesu Worte bei Johannes und die Worte aus Ezechiel 34, Lukas‘ Gleichnis vom verlorenen Schaf ausdrücken, werden auch im Kinderlied von Henriette von Hayn beschrieben:

2. Unter seinem sanften Stab / geh‘ ich aus und ein und hab‘ / unaussprechlich süße Weide,
dass ich keinen Mangel leide; / Und sooft ich durstig bin, / führt er mich zum Brunnquell hin.

Für uns ist gesorgt. Wir dürfen das Geschenk, das uns Gott in Jesus Christus gemacht hat, in seinem Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung, annehmen und uns verändern lassen durch den Glauben, durch das Vertrauen auf Jesus und darauf, dass er für uns sorgt. Als der gute Hirte, der die Seinen kennt und beim Namen nennt.

Ich stelle mir vor, dass dieses Vertrauen, das aus Henriette von Hayns Liedzeilen spricht, auch der Grund ist, weswegen sie nicht – wie es zu ihrer Zeit oftmals der Fall war – das irdische Leben als Wanderung durch ein Tal der Tränen und des Jammers beschrieb, sondern als das Gegenteil: Unser irdisches Leben, das auf dem Glauben beruht, dass Jesus für uns eintritt, uns nahe ist, wie ein Hirte seiner Herde nahe ist, uns kennt, wie ein Hirte seine Schafe voneinander unterscheiden kann und merkt, wenn eines fehlt, und uns immer begleitet, dieses Leben ist ein Vorgeschmack auf die kommende Heilszeit:

3. Sollt‘ ich denn nicht fröhlich sein, / ich beglücktes Schäfelein? / Denn nach diesen schönen Tagen / werd‘ ich endlich heimgetragen / in des Hirten Arm und Schoß: / Amen, ja mein Glück ist groß!

Sorgen müssten wir uns machen, wenn uns Jesus ein Vorbild gegeben hätte – so übersetzt Martin Luther in Vers 21. Ein Vorbild ist nicht nahe, im Begriff „Vorbild“ schwingt für mich immer mit, dass man ihm nie gerecht werden und es nie einholen oder erreichen kann. Aber dem Verfasser des Petrusbriefs ist es ein Anliegen, seine Gemeinde daran zu erinnern: Für euch ist Jesus gestorben und auferstanden. Es ist vollbracht. Für euch ist gesorgt, denn Jesus selbst tritt für euch ein.

Jesus liebt uns Menschen so sehr, dass er für uns den Tod überwindet. Er sucht uns und trägt uns nach Hause. Wenn ich die Geschichte vom Verlorenen Schaf und dem guten Hirten, der es nach Hause trägt, in der Schule oder im Kindergarten erzähle, basteln wir kleine Schäfchen, auf die jedes Kind seinen Namen schreibt. Manchmal verstecken wir dann die Schäfchen, suchen sie und freuen uns, wenn wir alle gefunden haben. Es wäre doch eine schöne Erinnerung an das Geschenk Jesu, einen Pappteller oder ein in Form einer Wolke ausgeschnittenes Papier zu nehmen, einen Schafskopf und Beine aus Papier anzukleben, und seinen Namen darauf zu schreiben – als Zeichen: Ich gehöre zu Jesus. Er sorgt für mich. Martin Luther machte es ähnlich, er schrieb auf einen Zettel: Ich bin getauft! Um an schönen und sorgenvollen Tagen die Zusage Jesu vor Augen zu haben: Ich bin der Gute Hirte. Du gehörst zu mir. Ich behüte dich und sorge für dich.

Amen