Exaudi

»Gebt Acht!«, sagt der HERR. »Die Zeit kommt, da werde ich mit dem Volk von Israel und dem Volk von Juda einen neuen Bund schließen. 32 Er wird nicht dem Bund gleichen, den ich mit ihren Vorfahren geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm und aus Ägypten herausführte. Diesen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihnen doch ein guter Herr gewesen war. 33 Der neue Bund, den ich dann mit dem Volk Israel schließen will, wird völlig anders sein: Ich werde ihnen mein Gesetz nicht auf Steintafeln, sondern in Herz und Gewissen schreiben. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein«, sagt der HERR.A 34 »Niemand muss dann noch seinen Nachbarn belehren oder zu seinem Bruder sagen: ‚Lerne den HERRN kennen!‘ Denn alle werden dann wissen, wer ich bin, von den Geringsten bis zu den Vornehmsten. Das sage ich, der HERR. Ich will ihnen ihren Ungehorsam vergeben und nie mehr an ihre Schuld denken.«

Jer 31, 31-34

Liebe Gemeinde!

Vor vielen Jahren hatte ich vertretungsweise Konfirmandenunterricht in einer Albgemeinde übernommen, und wir sprachen gerade über den Barmherzigen Samariter. Ich hatte die Geschichte etwas verändert und herzergreifend von einem verunglückten Fan auf dem Weg zum Fußballspiel erzählt, an dem zwei Spieler der eigenen Mannschaft schweren Herzens vorbeiradeln ohne zu helfen, weil sie eigentlich schon längst auf dem Platz stehen und ihre Mannschaft zum Sieg führen müssten. Nachdem der Kapitän der gegnerischen Mannschaft an der Unfallstelle vorbeikommt, unterbrach ich die Geschichte und fragte in die Runde: „Was würdet ihr denn jetzt an seiner Stelle machen?“ Und da sagte ein Mädchen voller Nachdruck: „Ja, da muss man doch absteigen und helfen! Der arme Verletzte!“ Gerade will ich sie loben, da fährt sie voller Ingrimm fort: “Es sei denn, der Verletzte ist aus – sie nannte den Namen des Nachbardorfs – na däd i den stracke lau!“

So lernte ich den schönen Begriff „stracke lau“ und viel über Überlieferung und Lernen. Als ich mich nach dem Unterricht sacht erkundigte, warum sie gegen die Einwohner des Nachbarorts Groll hegte, meinte sie: „Also, Frau Pfitzer, des kann i Ihne fei ed gnau sage! Aber moin Grovadder hod emmer gsaid: Mit dene dud mr ed!“

Menschen geben ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Einstellungen an ihre Mitmenschen weiter. Mit allen Deutungen und eigenen Prägungen – wie in diesem Fall. Bildung hat viel mit Vorbildern zu tun und damit, sich selbst ein Bild machen zu können. Zur Zeit Israels bestand die schulische Ausbildung im Auswendiglernen wichtiger biblischer und nichtbiblischer Texte. Dieses Verinnerlichen und Aneignen der Texte ermöglichte es, sie bei Bedarf mündlich oder schriftlich wiedergeben zu können.

Im Englischen heißt, was man auswendig spricht oder singt „by heart“. Auch wir sagen ja, man beherzige etwas oder nehme sich etwas Herzen: Etwas geht uns nahe, wird nicht vergessen, bewegt uns und verändert unseren Blick auf die Welt. Je stärker wir denen vertrauen, die uns Wissen vermitteln, desto eher nehmen wir uns ihre Worte zu Herzen, lassen uns von ihnen Bildung, Welt-Bilder und Gottesbilder vermitteln. Der Blickwinkel des Lehrenden prägt den Blick der Lernenden. Luthers Zeit war geprägt von der Furcht vor Gottes Strafgericht, Luther erkannte und vermittelte Gottes Gerechtigkeit als Rechtfertigung aus Paulus‘ Schriften und gab den Glaubenden direkten Zugang zur Heiligen Schrift: Jeder kann selbst nachlesen, wie sehr Gott die Welt liebt.

Unser Predigttext bei Jeremia verheißt uns noch mehr: Unmittelbare Gotteserkenntnis. Paulus schreibt in 1 Kor 13,12: „Denn jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild. Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke. Aber dann werde ich vollständig erkennen, so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.“ Ein beschlagener oder stellenweise blind gewordener Spiegel zeigt kein klares Bild. Zu Paulus‘ Zeit waren die Spiegel meist polierte Bronzescheiben, uneben und vermutlich nicht allzu deutliche Spiegelbilder erzeugend. Ähnlich wie menschliche Erinnerungen und Erfahrungen: Auch sie geben Bruchstücke wieder, nicht das ganze Bild in allen Einzelheiten.

Die Texte der Bibel wurden über Generationen mündlich überliefert. Erst zur Zeit der Könige wurden die Texte aufgeschrieben. Manche Erfahrung war so gravierend, dass sie immer lebendig blieb, wie der Auszug aus Ägypten, der über das Passafest als grundlegende Befreiung durch Gott allen folgenden Generationen vermittelt wurde. Das jüngste Kind fragt: „Warum ist diese Nacht so anders als alle anderen Nächte?“ Dann wird die Geschichte des Auszugs aus Ägypten erzählt und vergegenwärtigt. Die Menschen werden hineingeholt in die Geschichte der Vorfahren, auch durch besondere Speisen: Bitterkräuter, Salzwasser für Tränen, Mus, das an Lehm für die Ziegel erinnert. Zeichenhandlungen halten die Erinnerung lebendig, doch ist es nicht die unmittelbare Erfahrung des Auszugs.

Erfahrungen und Erkenntnisse anderer und eigene Erfahrung ermöglichen mir, mir ein Bild von der Welt zu machen. Deshalb ist es wichtig und sinnvoll, dass wir von Gott erzählen, jeder und jede von eigenen Erfahrungen mit Gott berichtet. Die Geschichten unserer Erfahrungen mit Gott sind vielstimmig und vielfältig wie das Zeugnis der Bibel. Noch lehren wir Mitmenschen und Nachbarn und lernen von ihnen, und es ist wichtig, dass wir unser Gottesbild, immer wieder mit anderen Erfahrungen und Bildern abgleichen und unsere Anschauung überprüfen; dass wir die Bruchstücke zusammenfügen, so gut wir es können, um ein deutlicheres Bild zu erhalten.

Aber erst wenn Gott sich offenbart, beginnt die Zeit unmittelbarer Gotteserfahrung. Fehlinterpretationen oder -deutungen des Gelesenen oder Gehörten, wie sie zum Beispiel im 2 Buch Mose auffallen, sind dann bedeutungslos: Michelangelos Mosestatue hat Hörner, die Mose auch auf anderen Bildern hat, weil die lateinische Vulgata das hebräische qaran (strahlend) statt mit coronato (gekrönt) mit cornuto (gehörnt) wiedergegeben hat.

Aber noch geht es uns wie den Jüngern: Jesus ist aufgefahren und hat den Heiligen Geist verheißen. Die Jünger leben aus ihrem Vertrauen in die Heiligen Schriften, die Jesus bestätigt hat, nach denen er gelebt, deren Verheißungen er erfüllt hat. Sie schöpfen Kraft aus dem, was sie mit Jesus erlebt und von ihm über Gott erfahren haben. Durch Jesu Auferstehung wurde ihnen bestätigt: Was Gott versprochen hat, ist wahr und verlässlich. Gott verspricht heilvolle Zukunft und wird sein Versprechen einlösen – mit dieser Zuversicht lassen sich die Widersprüche des Lebens aushalten. Noch nicht, aber bald – Gottes Zukunft, Gottes Geist kommt.

Wir erleben uns selbst als immer wieder neu zum Glauben aufgerufen: Ich glaube, hilf meinem Unglauben, unsere Jahreslosung erinnert uns daran, dass wir als Christinnen und Christen, als Kirche immer unterwegs sind, und dass uns in allen schönen und schweren Zeiten Gottes Versprechen trägt: Gott hält eine heilvolle Zukunft für uns bereit. Noch sind wir nicht angekommen, noch unterwegs: Das christliche Leben ist ein Werden, kein Sein: Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber, schreibt Luther.

Bis Gott seine gute Weisung für unser Leben direkt in unser Herz schreibt, ist es an uns, unsere Zuversicht, Hoffnung und unser Vertrauen weiterzutragen. Wir bemühen uns um die uns anvertrauten Kinder und Jugendliche, um Kinder und Enkel, um die uns in Kindergottesdienst, Jungscharen, Jugendkreis, Schul- und Konfirmandenunterricht Anvertrauten. Wir geben Zeugnis von unserem Glauben: Warum feiern wir Ostern und glauben, dass das Grab am Ostermorgen leer war? Warum lassen wir uns sonntags in der Kirche an die Botschaft des Ostermorgens, dass der Tod besiegt ist, erinnern und bekräftigen sie in Wort, Gebet und Lied und erleben heilsame, ermutigende und tröstliche Gemeinschaft? Die Zeit, die uns wie den Jüngern zwischen Himmelfahrt und Pfingsten als eine Zeit zwischen der angekündigten, versprochenen Zukunft und ihrem Eintreffen geschenkt ist, erleben wir als sinnvoll, sie kosten sie aus und würdigen sie, indem wir nach bestem Wissen und Gewissen von der guten Nachricht erzählen, die uns geschenkt ist, damit unsere Mitmenschen, vor allem die Jüngeren, sie sich zu Herzen nehmen, verinnerlichen und ihr Leben darauf aufbauen können. Amen