Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Predigt zu 1. Thess 5, 1-6

Liebe Gemeinde,

Morgen ist der 9. November. Ein Jubeltag. Ein Trauertag. Licht und Schatten. Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann die deutsche Republik aus – lang hatte sie leider nicht Bestand. Am 8. und 9. November 1923 putschte Adolf Hitler in München, kam im Jahr darauf in Festungshaft und schrieb „Mein Kampf“. Am 9. November 1938 fielen Nationalsozialisten in der Pogromnacht über die Juden her, 1939 scheiterte am 9. November das Attentat des Widerstandskämpfers Georg Elser auf Adolf Hitler wegen weniger Minuten. Am 9. November 1989 fiel die Mauer, nachdem der überforderte Günter Schabowski erklärt hatte, seines Erachtens stehe es den Bürgern der DDR ab sofort frei auszureisen. Geschichte wird von Menschen geschrieben, die versuchen, Ereignisse herbeizuzwingen, begünstigt von Verdrängung oder Resignation anderer, die denken: Welchen Unterschied kann ich schon machen? und es gibt Menschen, die wach sind, bereit zur Tat.

Wachsamkeit, wach sein, nüchtern, bereit zu handeln, ohne Fanatismus und ohne Resignation, im Wissen, dass es einmal den Moment gibt, in dem zu spät ist, dazu ruft Paulus im Brief an die Gemeinde in Thessalonich auf. Paulus lebte im Bewusstsein, dass der Anbruch von Gottes Reich unmittelbar bevorstehe, anfangs war Paulus überzeugt, er werde diesen Tag selbst erleben. In den Gemeinden herrscht Verunsicherung, denn trotz der Verkündigung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi sterben Menschen. Die Gemeinde schreibt an Paulus, bittet um Trost, Zuspruch, Vergewisserung. Die eine Reaktion der Gemeindeglieder scheint der Wunsch zu sein, die Wiederkunft Christi mit allen Mitteln herbeizuzwingen – ihnen schreibt Paulus: Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Uneingeladen, ohne Zutun des Hausherrn.

Die anderen scheinen jeden Gedanken an ein Ende verdrängen zu wollen. Für sie kommt der Tag des Herrn dann wie Wehen über eine Gebärende: Plötzlich, schmerzhaft, ausweglos. Es ist eine Situation, in der sich durch die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft wiederfindet: Wo vorher angesichts vieler Brennpunkte immer wieder ein Handeln eingefordert wurde – mehr Bildungsgerechtigkeit, es sollte eine größere Chancengleichheit und Aufstiegsmöglichkeiten auch für Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien herrschen, mehr Klimagerechtigkeit, denn wir heute Erwachsenen führen mit unseren Entscheidungen teils unumkehrbare Veränderungen herbei, mit denen die Generationen der heutigen Kinder und ihre noch ungeborenen Kinder leben müssen – herrschte in Teilen von Gesellschaft und Politik Lethargie. Im März, als man überrascht wurde, schmerzhaft die Versäumnisse offengelegt waren und kein Ausweichen möglich war, ging manches plötzlich schnell: Es ist doch grundsätzlich möglich, den Flugverkehr von einem auf den anderen Tag einzuschränken. Über die Konsequenzen muss natürlich debattiert werden.

Die Pandemie konfrontiert uns alle aber auch schmerzhaft mit der Einsicht, dass unser eigenes Leben von einem Moment auf den anderen entweder enden oder sich unwiderruflich ändern kann. Wir alle werden irgendwann sterben. Paulus‘ Antwort macht klar, ob man nun den Tod verdrängt und sich in falscher Sicherheit wiegt oder sich der Illusion, die Kontrolle über den Zeitpunkt des Endes ergreifen zu können, hingibt – letztlich haben beide Strategien keine Aussicht auf Erfolg! Lebt jeden Tag in Wachheit und Nüchternheit, mahnt er. Nutzt die euch geschenkte Zeit. Paulus vergewissert und tröstet seine Gemeinde in Thessalonich auch und erinnert daran, dass der Tag des Herrn als Tag des Gerichts nicht schrecken muss, weil wir Christen wissen, zu wem wir im Leben wie im Tod gehören: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, schreibt Paulus in 2 Kor 5, 17.

Wir leben auf die Seligkeit hin, das Leben in Gottes Reich. Wir sind in Christus schon grundlegend neu und zur Seligkeit berufen und werden es nicht erst. Wir sind schon, bei allem, was noch an dunklen Stellen in uns ist, Kinder des Lichts – weil Jesus für uns gestorben ist. Wenn wir uns mit Nächstenliebe, Trost und gegenseitiger Ermutigung füreinander einsetzen, handeln wir nicht so, um Christus möglichst gleich zu werden, sondern dann zeigt unser Handeln unser neues Sein: Wir leben schon im Licht, sind schon Kinder des Lichts.

In Christus bin und bleibe ich ein Kind des Lichts, auch wenn ich in mir, in meiner Seele, in meinem Herzen, noch dunkle, finstere Stellen habe, nicht untadelig bin und sein kann. Wie der 9. November, Licht und Dunkel nebeneinander. Ich darf dennoch vertrauensvoll auf den schauen, der mich im Leben wie im Tod begleitet und an meiner Seite ist. Den Blick auf Jesus hier auf der Erde einzuüben, ich glaube, das ist es, worum es Paulus geht, und zur Tat bereit zu sein, um sich für Gottes Reich schon im Hier und Jetzt einzusetzen. Jesus hat Kranke und Notleidende nicht vertröstet auf das Leben in der kommenden Welt, sondern ihnen in dieser Welt geholfen. Alle konnten daran erkennen, was uns in Gottes Reich erwartet: Heil, Heilung, Vollendung, Friede, Gerechtigkeit, Gemeinschaft.

Es gibt Momente, in denen wir merken, Menschen, die im richtigen Moment wach und bereit sind, können eine Veränderung zum Guten bewirken. Wie viele Tote hätte es am Tag des Mauerfalls geben können, wenn Kommandierende an Grenzübergängen gewaltsam versucht hätten, die Ausreise aus der DDR zu verhindern? Wie muss Georg Elser gebetet, abgewogen und mit sich gerungen haben, was schuldhafter sei: Zu handeln und einen Anschlag zu planen, oder dem Geschehen seinen Lauf zu lassen?

Der 9. November zeigt mit seinen lichten und finsteren Seiten, wie einige Menschen wachsam sind, andere fanatisch und wieder andere lethargisch, schlafwandlerisch zulassen, dass Gewalt, Spaltung, Unrecht und Hass gewinnen. Der 9. November mit seiner Geschichte mahnt und ermutigt wie Paulus. Der 9. November zeigt auch, dass es die scheinbar klare Trennung zwischen Licht und Dunkel nicht gibt, nicht geben kann. Wir, die als Kind des Lichts leben, sind aufgerufen, immer wachsam zu prüfen, wie Gottes Willen entsprechend gehandelt werden soll. Paulus gibt keinen anderen Ratschlag als: Seid nüchtern. Wachsam. Bleibt pragmatisch, unaufgeregt, prüft sorgfältig.

Paulus‘ Worte wurden auch so gehört: Hier, im Licht, wir, dort im, Dunkel, die anderen. Damit ist der Ausgang festgelegt. Kann es die scheinbar klare Trennung überhaupt geben, die beispielsweise auch Bundespräsident Joachim Gauck 2015 traf, indem er ein „helles Deutschland von freiwilligen Helfern dem „Dunkeldeutschland“ von Extremisten und Fremdenfeinden gegenüberstellte? Kann man zum Beispiel eindeutig trennen in Georg Elsers Fall, der den Tod eines Menschen plante, um viele andere zu retten?

Paulus ruft dazu auf, das Leben wertzuschätzen. Das Leben in der kommenden Welt und das Leben davor. Die Chance, selbst jeden Tag das Unsere beizutragen, Licht in die Welt zu bringen, haben wir jeden Tag. Jesus ruft seinen Freunden zu: Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. Es ist schon hier, klein wie ein Same, und es kann wachsen und mächtig werden, wo Menschen aufmerksam und bereit zum Handeln sind, nichts gewaltsam erzwingen, nicht aufgeben, nicht resignieren. Martin Luther wird der Satz in den Mund gelegt: Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Wir wissen, dass wir nicht unendlich Zeit haben. Wir wissen auch, dass wir dem Licht der Ewigkeit entgegengehen. Wir sind in Christus: Wir leben schon hier in Gottes Licht.

Amen